1.6. Metamodernismus
Ein Beispiel für einen Entwurf einer türkisen Gesellschaft findet sich in Hanzi Freinachts Metamodernismus.
Metamodernismus ist eine philosophische und kulturelle Strömung, die als Antwort auf die Herausforderungen des digitalisierten, postindustriellen und globalen Zeitalters entstanden ist. Hanzi Freinacht definiert Metamodernismus als eine Weltanschauung, die über die Moderne und Postmoderne hinausgeht und versucht, deren Stärken zu integrieren, während sie gleichzeitig deren Schwächen überwindet.
Kernaspekte des Metamodernismus
Oszillation zwischen Gegensätzen: Ein zentrales Merkmal des Metamodernismus ist die Fähigkeit, zwischen scheinbar gegensätzlichen Perspektiven zu pendeln und diese in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten. Hanzi Freinacht beschreibt diesen Aspekt als eine „Oszillation“, die es ermöglicht, zwischen dem Enthusiasmus der Moderne und der Ironie der Postmoderne zu schwingen. Der Metamodernismus anerkennt die Fortschrittsidee der Moderne – den Glauben an Wissenschaft, Vernunft und technologische Lösungen – ohne jedoch in einen naiven Optimismus zu verfallen. Gleichzeitig nimmt er die postmoderne Skepsis gegenüber Meta-Erzählungen und absoluten Wahrheiten auf, aber ohne in Zynismus und Beliebigkeit abzudriften. Diese Oszillation bedeutet, dass man sich mit Hoffnung und Melancholie, Naivität und Wissen gleichermaßen auseinandersetzt. So wird eine Weltanschauung geschaffen, die die Tiefe und Komplexität der menschlichen Erfahrung anerkennt und es erlaubt, sowohl optimistisch als auch kritisch zu sein. Es geht darum, Widersprüche zu halten, ohne sie aufzulösen, und dadurch neue Einsichten und Möglichkeiten zu gewinnen.
Struktur des Fühlens: Der Metamodernismus wird von Freinacht als eine „Struktur des Fühlens“ beschrieben, die es erlaubt, „aufrichtig und ironisch zugleich zu sein.“ Diese Struktur impliziert, dass man tiefe Überzeugungen und Werte entwickeln kann, während man gleichzeitig eine gewisse Distanz zu diesen Überzeugungen behält, um flexibel und anpassungsfähig zu bleiben. Es geht darum, nicht dogmatisch oder starr an Überzeugungen festzuhalten, sondern sie mit einer gewissen Leichtigkeit und Reflexivität zu betrachten. Dieses „gleichzeitige Fühlen“ ermöglicht es, ernsthaft zu handeln und zu glauben, während man sich bewusst ist, dass jede Perspektive nur eine von vielen möglichen ist. Dadurch wird eine Art doppelte Bewusstheit kultiviert: Man kann von einer Sache überzeugt sein, ohne die Ironie und den Humor im Blick auf die eigenen Überzeugungen zu verlieren. Diese Fähigkeit, ernsthaft zu handeln, ohne den ironischen oder reflexiven Blick zu verlieren, verleiht dem Metamodernismus seine einzigartige Tiefe und Vielschichtigkeit.
Entwicklungsorientierung: Im Gegensatz zum postmodernen Relativismus, der oft jeglichen Fortschrittsglauben als naiv und hegemonial ablehnt, vertritt der Metamodernismus eine positive Haltung gegenüber Fortschritt und Entwicklung. Allerdings wird diese Haltung nicht mit dem unkritischen Optimismus der Moderne verwechselt. Der Metamodernismus anerkennt, dass Fortschritt komplex und vielschichtig ist und dass es keine lineare Entwicklung gibt, die zwangsläufig zu einer besseren Welt führt. Dennoch wird der Glaube an die Möglichkeit der Weiterentwicklung von Individuen und Gesellschaften bewahrt. Fortschritt bedeutet hier nicht nur technologische Innovation, sondern auch die Entwicklung von Bewusstsein, Empathie und sozialer Verantwortung. Der Metamodernismus strebt danach, sowohl individuelle als auch kollektive Entwicklungsprozesse zu fördern und ein tieferes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Kultur, Politik und Technologie zu entwickeln. Dabei wird das Ziel einer gerechteren, nachhaltigeren und weiseren Welt angestrebt, ohne in einen dogmatischen Fortschrittsglauben zu verfallen.
Gesellschaftliche Implikationen
Die hörende Gesellschaft: In seinem Werk The Listening Society entwirft Hanzi Freinacht das Bild einer Gesellschaft, die das psychologische Wachstum und das Wohlergehen aller Bürger in den Mittelpunkt stellt. Diese „hörende Gesellschaft“ geht über bloße materielle und ökonomische Bedürfnisse hinaus und setzt den Fokus auf das innere Wohlbefinden und die mentale Gesundheit der Menschen. Freinacht plädiert dafür, dass eine Gesellschaft, die das emotionale und psychologische Wachstum ihrer Bürger fördert, auch zu einer tieferen Form der Demokratie führen wird. In einer solchen Gesellschaft sind die Menschen fähig, nicht nur auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, sondern auch aktiv und bewusst an deren Gestaltung teilzunehmen. Das soziale Engagement wächst, wenn Bürger ihre inneren Ressourcen und ihr Bewusstsein erweitern und in der Lage sind, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Eine „hörende Gesellschaft“ schafft somit die Bedingungen für eine informierte, einfühlsame und reflektierte Bürgerschaft, die sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um das Gemeinwohl kümmert.
Metamoderne Politik: Freinacht beschreibt eine neue Form von Politik, die über die traditionellen Links-Rechts-Dichotomien hinausgeht. Metamoderne Politik strebt nach einer Integration der Stärken verschiedener ideologischer Ansätze, ohne sich starr auf eine bestimmte politische Ausrichtung festzulegen. Diese Politik versteht, dass sowohl individuelle Freiheit als auch kollektive Verantwortung wesentliche Elemente einer funktionierenden Gesellschaft sind. Es wird versucht, eine „höhere Ordnung“ zu schaffen, die die besten Ideen und Praktiken verschiedener politischer Philosophien vereint – sei es der Fortschrittsglaube der Moderne, die Gerechtigkeitsforderungen des Postmodernismus oder die Wertschätzung von Traditionen aus konservativen Ansätzen. Dabei geht es nicht um Kompromisse im klassischen Sinne, sondern um eine transformative Synthese, die neue, flexible und integrative Lösungen ermöglicht. Diese Politik ist adaptiv und richtet sich nach den spezifischen Bedürfnissen und Herausforderungen der jeweiligen Zeit und Kultur, was bedeutet, dass sie auf einer tiefen Reflexion über die sich wandelnde Gesellschaft und deren Entwicklungspotenziale basiert.
Kulturelle Neubelebung: Der Metamodernismus fordert auch eine kulturelle Neubelebung, insbesondere durch eine Wiederentdeckung bestimmter Aspekte der Romantik. Diese Wiederbelebung umfasst eine gesteigerte Sensibilität für emotionale Tiefe und ästhetische Ausdrucksformen in Kunst und Kultur. Während die Moderne oft von rationalen und funktionalen Ansätzen dominiert wurde, und die Postmoderne ironische Distanz und Dekonstruktion betonte, bringt der Metamodernismus eine neue Art von emotionaler Resonanz und Authentizität in den künstlerischen Ausdruck. Freinacht spricht von einer Kunst und Kultur, die fähig ist, starke emotionale Erfahrungen zu vermitteln, ohne dabei in Naivität oder bloßen Eskapismus zu verfallen. Diese kulturelle Neubelebung soll dazu beitragen, Menschen wieder stärker mit ihren Emotionen und mit der Natur zu verbinden und eine tiefere Sensibilität für die komplexen Zusammenhänge des Lebens zu entwickeln. Kunst und Kultur werden so zu Trägern einer neuen, integralen Weltsicht, die die Verbindung zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur betont.
Fünf Aspekte des Metamodernismus:
- Glaube an Fortschritt und Entwicklung: Der Metamodernismus glaubt an Fortschritt, ohne in den unkritischen Fortschrittsglauben der Moderne zurückzufallen. Er versucht, auf Grundlage der postmodernen Kritik neu zu definieren, was angemessener Fortschritt bedeutet.
- Verständnis für Hierarchien: Obwohl dies nicht explizit erläutert wird, wird es als einer der fünf Aspekte erwähnt.
- Rekonstruktion nach Dekonstruktion: Ein Mantra der Metamoderne ist, dass auf die Dekonstruktion die Rekonstruktion folgen muss. Es geht darum, nach der postmodernen Dekonstruktion eine Rekonstruktion vorzunehmen und verschiedene Aspekte der Realität wieder zu verbinden.
- Streben nach einer neuen großen Erzählung: Das Ziel ist es, eine neue große Erzählung aus bekanntem Wissen zu schaffen, die alle Weisheit zusammenfügt, wobei man sich bewusst ist, dass dies ein fortlaufender Prozess ist.
- Sowohl-als-auch-Denken: Dies wird als fünfter Aspekt erwähnt, ohne näher erläutert zu werden.
Pragmatischer Utopismus
Unter pragmatischem Utopismus versteht man eine Haltung, die moderne Hoffnung und postmoderne Skepsis verbindet. Diese Perspektive lässt sich folgendermaßen charakterisieren:
Oszillation zwischen Gegensätzen
Der pragmatische Utopismus des Metamodernismus pendelt zwischen scheinbar widersprüchlichen Positionen: Zwischen modernem Enthusiasmus und postmoderner Ironie. Zwischen Hoffnung und Melancholie. Zwischen Naivität und Realismus. Zwischen Einheit und Vielheit.
Diese Oszillation ermöglicht es, sowohl optimistisch als auch kritisch zu sein.
Aufgeklärte Naivität
Der Metamodernismus strebt eine „aufgeklärte Naivität“ oder einen „pragmatischen Realismus“ an. Das bedeutet:
Man ist sich der Kritik und Probleme bewusst, gibt aber die Hoffnung nicht auf. Man verfolgt Ideale, bleibt dabei aber realistisch und pragmatisch. Man ist „aufrichtig und ironisch zugleich“.
Neudefinition von Fortschritt
Der pragmatische Utopismus des Metamodernismus glaubt weiterhin an Fortschritt und Entwicklung, definiert aber neu, was angemessener Fortschritt bedeutet. Berücksichtigt dabei die postmoderne Kritik. Hält aber an der Hoffnung fest, die Dinge zum Besseren zu entwickeln.
Verbindung von Alltag und Tiefe.
Im Sinne eines pragmatischen Utopismus versucht der Metamodernismus das Alltägliche wieder mit Sinn und Bedeutungstiefe zu verbinden. Das Gewöhnliche mit dem Mysterium zu verknüpfen. Das Vertraute mit dem Außergewöhnlichen in Beziehung zu setzen.
Dadurch sollen wesentliche Zukunftsdimensionen neu wahrgenommen und kreativ ausgedrückt werden. Der pragmatische Utopismus des Metamodernismus versucht somit, die Kluft zwischen Idealismus und Realismus zu überbrücken. Er strebt nach Verbesserung und Fortschritt, bleibt dabei aber kritisch und reflektiert.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Metamodernismus nach Freinacht eine komplexe und nuancierte Weltanschauung darstellt. Er versucht, die Herausforderungen unserer Zeit durch die Integration verschiedener Perspektiven und die Betonung von psychologischem Wachstum und Entwicklung zu bewältigen. Diese Weltanschauung strebt eine Gesellschaft an, die das Wohlbefinden ihrer Bürger ins Zentrum stellt, eine Politik entwickelt, die über traditionelle Ideologien hinausgeht, und eine kulturelle Neubelebung fördert, die eine neue Sensibilität und Authentizität in die Kunst und Kultur bringt. Der Metamodernismus erkennt an, dass die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit alten Antworten gelöst werden können, und bietet stattdessen eine flexible, integrative und entwicklungsorientierte Perspektive, die sich auf das persönliche, soziale und kulturelle Wachstum konzentriert.
„Türkise Transformation – Mit Liquid Democracy und KI zu einer neuen Gesellschaftsordnung“, Seite 49ff, Gerhard Höberth, in Vorbereitung
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