Wer meinen Blog kennt, weiß, dass ich mich hier vor allem mit den großen Fragen der Gegenwart und Zukunft beschäftige – Kosmologie, Spiritualität, KI, gesellschaftlicher Wandel. Was viele jedoch nicht wissen: Ich schreibe auch Science-Fiction-Geschichten. Nicht im klassischen Sinne – sondern als narrative Denkexperimente, in denen sich wissenschaftliche Logik, visionäre Ideen und spirituelle Tiefe berühren.
Die folgende Kurzgeschichte ist neu und wird wahrscheinlich in einem zukünftigen Band erscheinen. Sie gehört nicht zu meinem aktuellen Buch „Ein Tropfen Raumzeit“, enthält aber denselben Geist: eine Mischung aus kritischer Weltbetrachtung, naturwissenschaftlicher Präzision und poetischer Spekulation.
Und vielleicht macht sie ja Lust auf mehr.
📘 Mehr zu meinem Buch „Ein Tropfen Raumzeit“ gibt es hier:
👉 Ein Tropfen Raumzeit
Ich wünsche eine anregende Lektüre!
DIE Frage
© Gerhard Höberth, April 2025
Ein kaum spürbares Zittern lief über seinen Körper und jagte ihm eine Welle von Gänsehaut über Arme und Rücken. Obwohl die Temperatur kaum gesunken war, strich der laue Abendwind über Sebastians von der Tagessonne gerötete Haut, während er auf der Terrasse des Hotels saß und gedankenverloren den Sonnenuntergang betrachtete.
Das Meer lag still wie ein Spiegel und warf das Licht zurück, das vor acht Minuten die Sonne verlassen hatte und nun, nach seinem langen Weg durch die dichten Atmosphärenschichten, in einem intensiven Rot glühte. Gerade dieser Umstand verlieh dem Moment für Sebastian seinen besonderen Zauber: dass der orangegetönte Himmel vor ihm nicht einem willkürlichen Farbenspiel entsprach, sondern denselben physikalischen Gesetzen folgte wie das leuchtende Blau des Tageshimmels – den Gesetzen, die hohe Frequenzen stärker zerstreuen und niedrige ungehindert passieren lassen.
Er warf einen Blick auf seine Uhr: kurz nach Mitternacht. Zumindest in Mitteleuropa. Es war ihm nicht der Mühe wert erschienen, die Zeitanzeige auf die lokale Ortszeit umzustellen. Schließlich geisterte er auch daheim zu jeder beliebigen Stunde umher und kümmerte sich wenig um die Diktate von Tag und Nacht. Oft saß er nachts im Büro, um eine komplexe Softwaresequenz fertigzustellen, und in seiner Studentenzeit hatte er sogar einmal mit einem 26-Stunden-Tag experimentiert, weil ihm die üblichen 24 Stunden schlicht nicht ausreichten. Sozial förderlich war dieser Rhythmus allerdings nicht gewesen – seine ohnehin spärlichen Kontakte hatten darunter eher gelitten. Hier im Hotel jedoch spielte Zeit keine Rolle: Das Buffet war rund um die Uhr gefüllt, und es war vollkommen gleichgültig, wann er aß oder schlief.
Gerade wollte er nach seinem Glas greifen, als ein dickes Insekt heranschwirrte, offenbar ebenso interessiert an dem roten Wein wie er selbst. Der Brummton der Flügelschläge lag in etwa bei D-0 – also 19 Hertz. Kurz überschlug er das Gewicht des Tieres, etwa 1,3 Gramm, und kalkulierte mit geübtem Blick die erforderliche Flügelfläche: Unter Berücksichtigung des Luftdrucks in Meereshöhe würde eine Fläche von etwa 0,7 Quadratzentimetern genügen, um das Insekt in der Luft zu halten. Das erinnerte ihn unwillkürlich an den Mythos des Hummelflugs – ein populärer Irrtum, entstanden durch einen Rechenfehler, der noch immer manche Esoteriker glauben ließ, eine Hummel trotze allein durch Willenskraft den Naturgesetzen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht.
Der Brummer hob sich wieder aus dem Glas und flog schwerfällig davon, zwischen den Palmen dem Strand entgegen. Wehmütig lauschte Sebastian dem dumpfen Summen nach, während er kalkulierte, dass bei einem beginnenden Sturm und einem Luftdruckabfall von zwei Hektopascal die Frequenz der Flügelschläge vermutlich um eine Terz auf etwa 25 Hertz steigen würde – ein beachtlicher Kraftakt für ein so kleines Wesen.
Ja, Kraft – das sollte er hier angeblich tanken. „Du musst dich mal entspannen“, hatten sie gesagt, als das letzte Projekt abgeschlossen war. Man hatte ihm ein Flugticket in die Karibik und eine Hotelbuchung in die Hand gedrückt und ihn kurzerhand in den Zwangsurlaub verabschiedet. Fünf Wochen Resturlaub aus dem Vorjahr standen ihm noch zu.
Sie hatten keine Ahnung, wie sich ein Geist mit einem IQ von 170-plus entspannte. Und dann schickten sie ihn ausgerechnet hierher – in einen Cluburlaub, ohne jede intellektuelle Herausforderung. Nicht einmal während seiner Studienzeit hatte er sich je so verloren gefühlt. Damals feierten seine Kommilitonen, ließen sich in Diskotheken zudröhnen, griffen zu Drogen oder frönten sonstigen, für ihn unverständlichen Formen der Entspannung. Immerhin hatte er damals wenigstens zwei Kollegen gefunden, die ebenfalls hochbegabt waren. Mit ihnen verbrachte er seine freie Zeit, indem sie skurrile Fachartikel verfassten und sich diese gegenseitig vorlasen. An Titel wie „Der Ödipuskomplex aus der Wahrnehmung von Eukaryoten nach der Zellteilung“ erinnerte er sich noch – oder an „Der Einfluss der Sonnenstrahlen auf das Liebesspiel der Kieselsteine“. Das war Entspannung: den Intellekt frei assoziierend von der Leine zu lassen, ohne ihm eine Richtung aufzuzwingen. Diese kreative Freiheit bedeutete wahres Glück. Arbeit hingegen war nichts anderes, als den Gedanken ein Korsett anzulegen, um vorgegebene Probleme zu lösen. Freizeit bedeutete nicht, den Intellekt abzuschalten – sondern ihn endlich zu befreien.
Doch hier tat er sich schwer. Bereits beim Einchecken am Vortag hatte er an der Rezeption eine erste Enttäuschung erlebt. Als er seinen Schlüssel mit der Zimmernummer 21 erhielt, hatte er grinsend gesagt: „21 ist auch nur eine Halbwahrheit.“ Der junge Mann, der ansonsten ein nahezu perfektes Deutsch sprach, hatte lediglich gelächelt, offenbar bemüht, seine Verwirrung zu verbergen.
„42?“, hakte Sebastian nach und wartete gespannt auf eine Reaktion, die sein Gegenüber als Eingeweihten entlarven würde. Doch der Angestellte blieb regungslos. „DONT PANIC!“, schob Sebastian nach – vergeblich. Offenbar war dem jungen Mann entgangen, dass dies die ersten Worte im Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams waren. Unglaublich, dachte Sebastian. Schließlich war „42“ längst zum universellen Running-Gag unter Intellektuellen geworden. Sogar eine Wissenschaftssendung auf ARTE trug den Titel 42 – die Antwort auf fast alles.
Als letzten Versuch deutete Sebastian an, dass er „sein Handtuch immer dabei habe“ – ein weiteres untrügliches Erkennungszeichen für Anhänger des Adams-Universums. Endlich hellte sich der Gesichtsausdruck des Angestellten auf. Er antwortete freundlich, Sebastian dürfe die Handtücher aus dem Zimmer natürlich auch mit an den Pool nehmen.
Es war nicht zu erwarten, dass er hier jemanden finden würde, mit dem er sich wirklich unterhalten konnte. Zu gerne hätte er jetzt jemanden gehabt, der ihn verstand. Diesem imaginären Gesprächspartner hätte er die Frage gestellt, was wohl bei Jeopardy geschehen würde, wenn die Antwort einfach „42“ lautete. Sicher kämen die Kandidaten nicht davon, indem sie lapidar fragten: „Was ist sieben mal sechs?“
Im Roman von Douglas Adams errechnete der gigantische Supercomputer Deep Thought die Antwort auf die „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Nach 7,5 Millionen Jahren Rechenzeit lautete diese Antwort schlicht: 42.
Allerdings konnte niemand etwas mit der Antwort anfangen, weil niemand die genaue Formulierung der Frage kannte. Also entschloss man sich, einen noch größeren Computer zu konstruieren – keinen herkömmlichen, sondern einen speziellen Rechner, der durch biologische Evolution die Frage selbst generieren konnte. Man erschuf einen Planeten.
Die Erde.
Überwacht von außerirdischen Experten, die sich – getarnt als Laborratten – in das System einschleusten. Doch nach vier Milliarden Jahren Rechenzeit, kurz bevor die Lösung gefunden werden konnte, wurde die Erde von den unwissenden und emotional primitiven Vogonen gesprengt, die Platz für eine neue Hyperraum-Expressroute schaffen wollten. Wahrscheinlich, so das Buch, war das gar nicht der schlimmste aller möglichen Fehler. Denn eine Theorie besagte, dass, wenn jemals jemand die „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ entdecken würde – deren Antwort „42“ ist –, das gesamte Universum augenblicklich verschwinden würde.
Dem HEUREKA! Folgt eine kosmische Sekunde Stille, dann der CRASH – und mit einem leisen → BLOPP ← wurde das Ganze durch etwas noch viel Bizarreres ersetzt.
Eine andere Theorie besagte, dass das mindestens einmal schon passiert sei.
HEUREKA! → CRASH → BLOPP ← Urknall! … Und jetzt haben wir den Salat.
Sebastian seufzte und griff nach dem vom Insekt verschmähten Hauswein, um einen kräftigen Schluck zu nehmen. Vielleicht, dachte er, müsste er tatsächlich auf Alkohol umsteigen. Er setzte das Glas ab und kräuselte die Nasenflügel, während er den Inhalt kritisch musterte. Alkohol wäre wohl nur dann eine Option, wenn er etwas Besseres fände als diesen Wein. Er war zwar aromatisch, aber fast schon zu sehr – so sehr, dass der Geschmack künstlich wirkte. Wer wusste schon, welche Chemikalien hier beigemischt worden waren, um ihn genießbar zu machen?
Plötzlich erfüllte Lachen die Terrasse. Sebastian sah sich um. Unbemerkt hatten sich einige Hotelgäste eingefunden, um gemeinsam den Sonnenuntergang zu bewundern. Da standen sie – die versammelten Ignoranten, die zielsicher Louboutin-Schuhe und Christian Dior-Handtaschen erkennen, aber wenn ihnen der Herbstwind ein Blatt vor die Füße weht, können sie Ahorn nicht von Buche unterscheiden.
Er spürte den Drang, zu fliehen. Was machte er überhaupt hier? Wie sollte er sich hier fünf Wochen lang beschäftigen?
Er erhob sich und warf einen Blick auf sein Weinglas. Nein, er würde es nicht mehr austrinken. Doch als er es abstellen wollte, bemerkte er, wie sich das Licht der mittlerweile eingeschalteten Terrassenbeleuchtung am Glasrand brach und einen kleinen Regenbogen erzeugte. Leise pfiff er durch die Zähne. Vollspektrum-LEDs – das hätte er diesem Hotel gar nicht zugetraut. Da fiel ihm ein, dass der Regenbogenwinkel in Wassertropfen genau 42 Grad betrug.
Er wandte den Blick ab und beschloss, in den Speisesaal zu gehen.
42 – die Antwort auf alles.
Vielleicht, so dachte er, sollte er die Frage dazu finden.
Das wäre zumindest eine Beschäftigung.
Er erinnerte sich daran, wie er vor einigen Jahren ein Buch gesehen hatte, dessen Untertitel lautete: „Gottes Schatten im Zentrum des Regenbogens“. Schon beim ersten Blick war ihm klar gewesen, dass der Inhalt eine Variante des Pantheismus vertreten musste: Die Fata Morgana des Regenbogens mochte physikalische Ursachen haben, doch seine Erscheinung war letztlich eine Frage der Perspektive: Im Zentrum des Regenbogens befand sich immer der Schatten des Beobachters. Jeder Mensch sah seinen eigenen Regenbogen – und sein eigenes Zentrum. Und wenn im Zentrum dieses Regenbogens Gottes Schatten lag, dann bedeutete das, dass jeder Beobachter selbst als Gott identifiziert wurde.
Ergo: Pantheismus.
Vielleicht war das ein Ansatz.
Er ließ seinen Blick über das Buffet gleiten. Muscheln, Tintenfisch, Scampi, Lachs … Er hasste Meeresfrüchte. Für ihn schmeckte das alles wie gebratener Fischschwanz – also schlicht ungenießbar. Lustlos steckte er sich für später ein Stück Weißbrot in die Hosentasche und verließ das Gebäude durch einen Seiteneingang.
Was war nötig, um aus dem Regenbogenwinkel die Frage zur Antwort 42 abzuleiten? Einerseits Physik – die Erklärung, warum sich die Lichtgeschwindigkeit – oder besser der Ablauf der Zeit – in Anwesenheit von Materie verlangsamt. Andererseits aber auch die Überlegung, warum die Menschen der Antike den Vollkreis in genau 360 Grad unterteilten. Denn nur dadurch ergab sich der Winkel von 42 Grad.
Im Freien blieb er stehen und hob den Blick zum Himmel. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die ersten Sterne begannen zu funkeln. Ungewöhnlich tief über dem Horizont entdeckte er den Polarstern – einen hellen Riesen, rund 2000-mal leuchtkräftiger als die Sonne, doch 448 Lichtjahre von ihr entfernt. Eigentlich ein Doppelsternsystem, das sich mit einer Geschwindigkeit von 17 Kilometern pro Sekunde der Erde näherte. In etwa acht Millionen Jahren würden sie nahe am Sonnensystem vorbeiziehen.
Sebastian sog die frische Nachtluft tief in seine Lungen. Doch er roch nicht nur das Meer. In der Mischung lag auch der beißende Gestank der nahen Toilette, der an eine Mischung aus Hundeschampo und abgestandenem Verpackungsschaum erinnerte. Als er zu dieser olfaktorischen Quelle hinüber blickte, sah er durch die offene Tür einen Mann stehen, während eine Frau davor offensichtlich auf ihn wartete.
Unvorstellbar – der Mann zog sich tatsächlich ein Kondom aus dem Automaten.
Dass denen bei solchen Gerüchen nicht die Lust auf Sex verging? Aber es waren eben nicht alle sapiosexuell, so wie er. Manche fanden offenbar überall ihre paarungswilligen Gegenüber.
Er verkniff sich eine abfällige Bemerkung und gab sich selbst das Versprechen, in der verbleibenden Zeit auf jedes Urteil zu verzichten. Er hatte jetzt ohnehin anderes im Sinn.
360 Grad hatte der Vollkreis. Drei mal vier mal fünf mal sechs – kleine Zahlen … hm. Das waren die höchsten Ideen bei Platon.
Den Kopf gesenkt, in Gedanken versunken, schritt er auf den Wohnkomplex zu.
Eine Verbindung von Physik – der Naturwissenschaft –, Bewusstsein – der Geisteswissenschaft – und Mathematik – der Strukturwissenschaft. Da musste sich doch ein Zusammenhang finden lassen.
Als er schließlich sein Zimmer mit der Nummer 21 erreichte und von innen die Tür schloss, traf es ihn wie ein Schlag:
Das war sie – die Frage zur Antwort auf alles!
Er hatte sie gefunden.
HEUREKA!
CRASH
→ BLOPP ←
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