Warum der Evolutionäre Idealismus nicht technokratisch ist

Eine Replik auf körperzentrierte Kritik

In letzter Zeit wurde mein Modell des Evolutionären Idealismus (EvId) vermehrt mit einem Vorwurf konfrontiert, der sich im Kern auf eine vermeintliche „Technokratie“ meines Weltzugangs bezieht. Die Kritik lautet: Der EvId sei zu stark auf Strukturen, Informationsverarbeitung und relationale Muster fokussiert – während das Leibliche, das Atemhafte, das Fühlbare zu kurz komme. Die Theorie abstrahiere den GEIST aus dem lebendigen Leib, sie vernachlässige den Rhythmus des Verkörpertseins zugunsten kognitiver Systematik.

Diese Kritik wurde zuletzt besonders differenziert von einem geschätzten Kollegen vorgetragen, der aus einer somatisch-dialogischen Praxis kommt. Er formuliert die Kritik entlang zweier Linien: Erstens fehle im EvId die Integration der „Zustandsachsen“ in den vier Quadranten, wie sie in der erweiterten integralen Theorie gedacht werden. Zweitens beschreibe ich Resonanz als „Informationsverarbeitung“, während sie seiner Erfahrung nach eine unmittelbar leiblich erfahrbare, rhythmische, dialogische Wirklichkeit sei – keine symbolisch rekonstruierte Relation.

1. Kein Ausschluss des Körpers, sondern Perspektivendifferenz

Zunächst ist klarzustellen: Der EvId schließt den Körper überhaupt nicht aus. Er beschreibt ihn jedoch nicht als primäre Quelle aller Erkenntnis oder als notwendige Bedingung für Wahrheit. Verkörperung ist im EvId nicht ontologisch grundlegend, sondern epistemologisch kontextualisiert: Sie ist eine Form, in der sich relationale Information aus Sicht eines Holons manifestiert. Eine zwingende Sekundärerscheinung eines Zwei-Perspektiven-Monismus.

Das bedeutet: Der Körper ist kein abgetrennter Erfahrungsraum, den ich nachträglich integrieren müsste. Er ist integraler Bestandteil eines relationalen Feldes, in dem Information nicht symbolisch-abstrakt gedacht wird, sondern als dynamisches Verhältnis zwischen Perspektiven auftritt. Verkörperte Resonanz ist damit eine spezifische Erfahrungsform relationaler Bedeutung – aber nicht deren ontologisches Fundament.

Der Verweis auf Atemfrequenzen, HRV-Kopplung oder Hirnwellen-Kohärenz ist legitim – sofern er nicht ontologisch überhöht wird. Herzkohärenz ist eine anthropozentrische Praxisform, um subjektive Zustände zu regulieren. Sie ersetzt keine Ontologie, sondern ist eine individuelle „Technik des Selbst“ (Foucault).

Im EvId ist diese Form der Resonanz nicht ausgeschlossen, sondern interpretierbar als ein Beispiel dafür, wie sich subjektive Perspektiven innerhalb eines relationalen Rahmens aufeinander einschwingen. Herzkohärenz ist damit keine fehlende Zutat des Modells, sondern ein besonderer Fall relationaler Synchronisierung – eingebettet in ein größeres ontologisches Netzwerk.

3. Zustände und Strukturen sind nicht getrennt, sondern zeitlich perspektiviert

Die Kritik, ich würde Struktur und Zustand trennen, verkennt die erkenntnistheoretische Struktur des EvId. Ich trenne nicht, ich perspektiviere. Zustände sind im EvId zeitlich organisierte Interpretationen von Mustern, keine eigenständige Wirklichkeitsebene. Es gibt keine Trennung zwischen Struktur und Erleben, sondern nur unterschiedliche Zeitachsen relationaler Selbstverortung.

Wenn zwei Nervensysteme im Dialog kohärent schwingen, dann ist dies ein emergentes Muster innerhalb des relationalen Feldes. Dass dieses Muster subjektiv als „tiefe Begegnung“ oder „Ekstase“ erfahren wird, widerspricht dem Modell nicht, sondern bestätigt es. Der EvId liefert die ontologische Tiefenstruktur, innerhalb derer solche Erfahrungen möglich werden.

4. Kein Geist, der nachträglich mit dem Körper verbunden werden muss

Im Zentrum steht eine Grundannahme: Der EvId verwirft das cartesische Paradigma, das Welt als Gegenüber von Geist und Materie denkt und daraus ein Konstrukt wie „verkörperter Geist“ erst ableiten muss. Ich setze stattdessen auf einen phänomenologisch-relationalen Monismus: Die Welt entsteht aus Relationen von Perspektiven. Raumzeit, Körperlichkeit und Objekthaftigkeit sind emergente Sekundärphänomene dieser Relationen.

Deshalb muss Geist im EvId nicht mit dem Körper versöhnt werden. Verkörperung ist eine Perspektivierung von Welt in Raum-Zeit-Verhältnissen. Der Körper ist Ausdruck einer relationalen Ontologie, nicht ihr Ursprung. Damit sind auch die „acht Zonen“ der integralen Theorie im EvId nicht ausgeschlossen, sondern von vornherein implizit enthalten, allerdings nicht als Zusatzachsen, sondern als phänomenologische Perspektivvariationen innerhalb eines relationalen Modells.

5. Quadranten bei Wilber vs. Quadranten im EvId

Hier liegt ein tiefer Unterschied: Ken Wilber geht in seiner ursprünglichen integralen Theorie von einer objektivierenden Struktur aus: Vier Quadranten, die Realität kartografieren, aber nicht konstituieren. Erst spätere Erweiterungen (wie die Einführung der Zustandsachsen: Von vier Quadranten zu acht Zonen) versuchen, die erlebte Wirklichkeit tiefer zu integrieren.

Im EvId dagegen sind die Quadranten von Beginn an nicht kartografisch, sondern phänomenologisch gedacht: als vier Perspektivachsen, aus denen sich Welt relational zeigt. Jeder Quadrant ist eine strukturierte Form von Perspektivität, keine separate Ontologie. Es braucht keine nachträglichen Erweiterungen, weil das Modell nicht von Objekten ausgeht, sondern von Relationen.

Fazit

Die Kritik eines fehlenden „verkörperten Zugangs“ verfehlt den Kern des EvId. Sie kritisiert aus einer erfahrungsorientierten Praxisperspektive ein Modell, das aus einer relationstheoretischen Ontologie spricht. Beides widerspricht sich nicht – aber es sind verschiedene Ebenen.

Der EvId schließt die dialogische Ekstase nicht aus. Er erklärt, woher sie stammt. Er ersetzt nicht das Atmen. Er beschreibt, unter welchen Bedingungen es Welt erzeugt. Er reduziert nicht das Gefühl. Er zeigt, wie es relational entsteht und Bedeutung bekommt.

Die Revolution beginnt vielleicht im Atem – aber sie braucht eine Theorie, die versteht, warum wir atmen können.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Warum der Evolutionäre Idealismus nicht technokratisch ist“

  1. Avatar von Oliver Schieffer
    Oliver Schieffer

    Om 😉

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