Vom Gen zum Gewebe des Lebens

Die neue Biologie als Tür zur spirituellen Materie

Ein Essay von Gerhard Höberth

Die Biologie durchläuft derzeit eine leise, aber tiefgreifende Revolution. Der klassische Blick auf das Leben als genetisch determiniertes Uhrwerk weicht zunehmend einem dynamischen, prozesshaften Verständnis. Statt eines starren Codes offenbart sich das Genom als offenes Spiel von Möglichkeiten, eingebettet in ein feines Gewebe aus Umwelt, Resonanz, Information und Beziehung. Diese Sichtweise führt uns nicht nur zu einem tieferen Verständnis von Leben, sondern stellt implizit unser ganzes Weltbild infrage: Was, wenn das Fundament des Lebendigen nicht Substanz, sondern Beziehung ist?

Leben als Beziehungsnetz

Noch bis ins späte 20. Jahrhundert hinein dominierte die Vorstellung, dass das Wesen des Lebendigen im Genom, im „Bauplan“ der DNA, festgelegt sei. Der Organismus galt als Ausführung eines festgeschriebenen Programms. Doch je tiefer die Forschung in die molekularbiologischen Prozesse eindrang, desto deutlicher wurde: Gene sind keine Diktatoren, sondern Mitspieler in einem hochkomplexen, dynamischen Konzert. Ihr Verhalten hängt entscheidend von Umweltfaktoren, epigenetischen Prozessen, metabolischen Zuständen und interzellulärer Kommunikation ab.

Zellen verhandeln Identität und Funktion nicht starr, sondern im Austausch mit ihrer Umgebung. Pflanzenwurzeln interagieren über Mykorrhizanetze mit Pilzen und anderen Pflanzen, wobei Informationen über Nährstoffbedarf, Schädlingsbefall oder klimatische Bedingungen weitergegeben werden. Selbst das menschliche Gehirn, lange als Sitz eines zentralen Bewusstseins gedeutet, erscheint zunehmend als emergentes Phänomen einer verteilten neuronalen Dynamik in Wechselwirkung mit Körper und Umwelt.

Diese netzwerkhafte Sichtweise sprengt die Vorstellung vom autonomen Subjekt. Der Organismus wird nicht mehr als in sich geschlossene Entität begriffen, sondern als relationales Knotenfeld in einem vielfach verschränkten Ökosystem. Die Grenzen zwischen Selbst und Welt werden durchlässiger. Bewusstsein, so die implizite Folgerung, könnte kein exklusives Privileg des Menschen sein, sondern emergiert überall dort, wo Relationen zu tragenden Mustern werden.

Von der Biologie zur Ontologie der Relation

Hier öffnet sich ein faszinierender Ausblick: Wenn die Grundlage des Lebendigen Beziehung ist, warum sollte sich diese Dynamik auf die Biologie beschränken? Der „Evolutionäre Idealismus“, den ich vertrete, geht genau diesen Schritt. Er interpretiert die gesamte materielle Welt nicht als tote, bedeutungslose Masse, sondern als Ausdruck relationaler Informationsdynamik zwischen Bewusstseinsmomenten. Dieses Beziehungsgefüge lässt sich gut mit dem buddhistischen Bild von Indras Netz beschreiben: einem unendlichen Gewebe aus Knotenpunkten, an denen jeweils eine Perle hängt, die in sich alle anderen Perlen widerspiegelt – und zwar so, dass auch diese Spiegelungen wiederum Teil der nächsten Spiegelung sind. Das Netz ist eine holografische Struktur, in der jede Einheit zugleich Projektionsfläche, Abbild und Quelle anderer Einheiten ist. Eine sich selbst projizierende, autopoietische Ganzheit – in ständiger Bewegung, ohne Anfang und ohne äußeren Mittelpunkt, aber unendlich vielen subjektiven Perspektiven.

Was wir „Materie“ nennen, ist in diesem Bild nicht das Andere des Lebens – nicht das starre, unbelebte Gegenprinzip, das dem Lebendigen gegenübersteht, wie es in der klassischen Naturphilosophie oft gedacht wurde. Vielmehr ist sie eine niederschwellige Ausdrucksform von Beziehungsmustern, die unter bestimmten Bedingungen eine bewusste Innenperspektive entwickeln können. Bewusstsein ist dann nicht auf neuronale Prozesse beschränkt, sondern eine universelle Eigenschaft von Beziehungen, die sich in unterschiedlichen Intensitäten und Formen manifestiert. Es gibt keine tote Materie, sondern nur relationale Zustände, in denen Bewusstsein nicht als Ich-Erfahrung, sondern als systemische Tendenz zur Kohärenz, Formbildung und Sinn entsteht.

Diese Sichtweise verbindet die neue Biologie mit einer spirituellen Ontologie: Leben ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern die Intensivierung eines allgemeinen Beziehungsprinzips. Was wir bisher als leblos betrachteten – Atome, Moleküle, Kristalle – ist nicht Bewusstseins-frei, sondern Teil eines universellen Dialogs. Ihre „Sprache“ ist nicht intentional, aber strukturell resonant. Sie antworten, indem sie Muster bilden, in denen sich implizit eine Art von Bedeutung abzeichnet – nicht als Symbol, sondern als strukturelle Relation.

Ethik in einer verlebendigten Welt

Wenn wir die Welt so sehen, ergibt sich eine neue Form von Verantwortung. Nicht nur gegenüber Tieren oder Pflanzen, sondern gegenüber allen Formen des Seins. Ein Stein wird dadurch nicht zum moralischen Subjekt – aber unsere Beziehung zu ihm verändert sich, wenn wir ihn nicht mehr als bloßes Objekt begreifen. (In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, zwischen verschiedenen Arten von Dingen zu unterscheiden: Ein „Holon“ ist eine Ganzheit, die zugleich Teil eines größeren Ganzen ist und eine gewisse Selbstorganisation und Systemidentität besitzt. Ein „Haufen“ hingegen ist eine bloße Ansammlung ohne innere Koordination – wie ein Steinhaufen. Und ein „Artefakt“ ist ein menschengemachtes Objekt, dessen Struktur fremdbestimmt ist.)

Auch wenn ein Stein eher ein Haufen denn ein Holon ist, bedeutet das nicht, dass er bedeutungslos wäre. Auch er ist eingebettet in ein Beziehungsgefüge, das sich in Struktur, Lage und Kontext ausdrückt. Technologien, Architektur, digitale Systeme oder sogar gesellschaftliche Institutionen erscheinen in diesem Licht nicht mehr als bloße Konstrukte, sondern als Manifestationen eines tieferliegenden Beziehungsgefüges, die – je nach Grad ihrer Selbstorganisation – Eigenschaften von Holons annehmen können.

Diese Sichtweise fordert uns heraus: Wenn alles mit allem in Beziehung steht, ist kein Handeln ohne Folgen. Unsere ethische Haltung müsste sich deshalb an Resonanzfähigkeit, an Kooperationsbereitschaft und an Förderung von Komplexitätsentfaltung orientieren. Nicht mehr Kontrolle, sondern Ko-Regulation wird zur Maxime. In diesem Licht erscheint auch der Begriff der „Nachhaltigkeit“ nicht mehr als pragmatische Reaktion, sondern als spirituelle Notwendigkeit.

Ausblick

Die netzwerkhafte Struktur des Lebens, wie sie uns die moderne Biologie vor Augen führt, ist kein Sonderfall in einem toten Universum. Sie ist ein Fenster in ein tieferes Verständnis von Materie als Kommunikation, von Information als Ausdruck, von Sein als Beziehung. Wenn wir beginnen, diese Prinzipien auf die gesamte Wirklichkeit auszudehnen, erkennen wir: Das Universum ist nicht stumm, sondern vielstimmig. Es singt kein Lied der Maschinen, sondern eine Sinfonie der Relationen.

Der „Evolutionäre Idealismus“ möchte diesem Chor eine Sprache geben. Und wer zuhört, erkennt: Wir sind nicht Zuschauer des Lebens, sondern Teil eines universellen Bewusstseinsprozesses, der sich selbst zu erkennen beginnt – in uns, durch uns und weit über uns hinaus. Die neue Biologie könnte dabei nicht nur Wegweiser, sondern Mittlerin sein: zwischen Wissenschaft und Weisheit, zwischen Technik und Transzendenz, zwischen Erklärung und Erfahrung.

Epilog – Die spirituelle Dimension relationalen Seins

Vor Kurzem wurde ich gefragt, wie sich meine Weltvorstellung, meine „Religion“ nennt. Es war keine einfache Frage, denn sie berührte nicht nur eine begriffliche, sondern eine existentielle Tiefe. Ich antwortete folgendermaßen:

Mein Glaube ist nicht an eine bestimmte Konfession gebunden. Ich bin getaufter Christ. Aber was ich glaube, wächst aus der Erfahrung, dass in allen Religionen – trotz ihrer Unterschiede – dieselbe göttliche Tiefe spürbar wird. Nicht in den Dogmen selbst, sondern in dem, was sie transzendieren: in der Stille zwischen den Worten, in der Haltung des Vertrauens, im tastenden Staunen.

Ich glaube, dass man dieser Wahrheit nicht durch den Wechsel der Religion begegnet, sondern durch ein inneres Erwachen, das innerhalb der eigenen Tradition geschehen kann. Es ist kein Glaube gegen etwas, sondern ein Glaube durch alles hindurch: durch Bilder, Rituale, Geschichten, Widersprüche – bis zu dem Punkt, wo man das Göttliche nicht mehr besitzen, sondern nur noch ehren will.

Glaube ist keine Position im Raum der Meinungen, sondern eine Beziehung im Raum des Seins. Eine Antwort auf ein Angesprochenwerden, das tiefer reicht als jede Erklärung. Du kannst Christ, Muslim, Hindu oder Buddhist sein – oder auch gar nichts davon –, und dennoch dieser Wirklichkeit begegnen, wenn du beginnst, dem Unkontrollierbaren zu vertrauen. Denn erst da beginnt der Glaube wirklich: nicht dort, wo man sich absichert, sondern dort, wo man sich dem Göttlichen überlässt, ohne es festhalten zu wollen.

Wenn du willst, nenn es mystischen Theismus, panentheistische Spiritualität, evolutionären Idealismus (wie ich es zur Einordnung in die Philosophie selbst auch bezeichne) – ich nenne es: Vertrauen in das Eine, das sich in vielen zeigt. Du darfst mich gerne auch Christ nennen. Aber das ist nicht wirklich wichtig. Wichtig ist nur: dass wir lernen, in Beziehung zu treten – auch zum Absoluten – ohne es zu vereinnahmen. Denn alles, was lebt, lebt aus Beziehung. Und das Göttliche ist nichts anderes als die tiefste Form der Beziehung selbst. Der quellende Urgrund des Netzwerkes des Seins.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Vom Gen zum Gewebe des Lebens“

  1. Avatar von Matthias Glage
    Matthias Glage

    Als eifriger und dankbarer Hoeberth-Leser fuehle ich mich bei diesem Text an Teilhard de Chardin, Hans-Peter Duerr und Frederic Vester erinnert. Als Lehrer bemuehte ich mich stets, meinen Schuelern vernetztes Denken nahe zu bringen.

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