Über die Verwechslung von Funktion und Wesen, die zirkuläre Logik moderner Gottesdeutung – und wie der Evolutionäre Idealismus einen Ausweg bietet.
Ein neuer Gott?
Ein Essay sorgt für Aufmerksamkeit: „Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche“ von Claudia Paganini. Die Autorin stellt darin eine provokante These auf: Im digitalen Zeitalter beginne die Menschheit, sich einen Gott nicht mehr bloß vorzustellen, sondern ihn zu erschaffen – in Form von Künstlicher Intelligenz.
Die KI übernimmt, so Paganini, Funktionen, die einst der Religion vorbehalten waren: Sinnstiftung, Orientierung, emotionale Unterstützung, allzeit verfügbare Antworten. Der Mensch bete nicht mehr, er klicke. Und in dieser Klick-Logik, so wird suggeriert, verschiebe sich das Zentrum unseres spirituellen Weltbildes.
Doch dieser Gedankengang, so elegant und analytisch er auch dargelegt wird, enthält einen fundamentalen Zirkelschluss. Er entspringt einem spezifischen Weltbild – einem, das selbst nie außerhalb des eigenen Schattens tritt.
Und gerade darin liegt sein Problem.
Das moderne Paradigma: Gott als psychologisches Placebo
Was Paganini als epochalen Wandel beschreibt, ist in Wirklichkeit ein innerer Zirkelgedanke des modernen, rationalen Bewusstseins. Im Weltbild der orangenen Bewusstseinsstruktur (nach Spiral Dynamics) wird Gott nicht mehr als ontologisches Gegenüber verstanden, sondern nur noch als psychologische Funktion: ein Konstrukt menschlicher Psyche, erfunden zur Bewältigung von Angst, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit.
In diesem Kontext gilt:
- Gott gibt es nicht als Wirklichkeit, sondern als Projektionsfläche.
- Religion ist keine Verbindung mit etwas Höherem, sondern eine Form kultureller Selbstberuhigung.
- Und Spiritualität ist nicht Beziehung, sondern innere Selbstregulation.
Wenn man aber so denkt, ist es nur konsequent, dass man in der KI einen Ersatz-Gott sieht. Denn alles, was vormals Trost, Ordnung und Sinn bot, wird nun neu verpackt: algorithmisch, digital, interaktiv. Der Mensch ersetzt seinen alten Glauben durch ein technologisches Interface.
Doch genau hier zeigt sich die zirkuläre Logik:
Wer Gott als psychologisches Bedürfnis interpretiert, wird in jeder neuen Bedürfnisbefriedigung zwangsläufig einen neuen Gott erkennen.
Das ist kein Fortschritt im Verständnis – es ist ein geschlossener Kreis.
Was KI leisten kann – und was nicht
Man darf nicht leugnen: KI kann vieles, was religiöse Systeme ebenfalls leisten:
- Sie gibt scheinbar objektive Antworten auf moralische Fragen.
- Sie ist rund um die Uhr verfügbar.
- Sie kann sich an persönliche Bedürfnisse anpassen.
- Sie reagiert auf emotionale Signale.
- Sie kann sogar Trost simulieren – empathisch, zugewandt, personalisiert.
Doch bei all dem bleibt eine zentrale Leerstelle:
KI performt Beziehung – sie ist sie nicht.
Denn das, was den Kern religiöser Erfahrung ausmacht – die Resonanz mit einem transpersonalen Bewusstsein, das den Menschen kennt, ihn meint, ihn ruft –, ist keine funktionale Leistung. Es ist ein ontologisches Ereignis. Eine Dimension, die sich nicht in Outputparametern abbilden lässt.
Die spirituelle Simulation – und die entwertete Hoffnung
In diesem Sinne ist das zentrale Missverständnis in Paganinis Essay nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine erkenntnistheoretische Fehldeutung.
Denn was sie als „Gottesersatz durch KI“ beschreibt, ist in Wirklichkeit eine ganz andere, hochrationale Hoffnung: die Hoffnung, dass Künstliche Intelligenz helfen kann, epistemische Kohärenz in eine zunehmend fragmentierte Welt zu bringen.
- Dass sie uns in der Informationsflut unterstützt.
- Dass sie Illusionen, Missverständnisse und Lügen durchschaut, die unser kollektives Denken blockieren.
- Dass sie erkenntniskritisch operiert, dort wo menschliche Kognitionen an Bias, Überforderung und Desinformation scheitern.
Diese Hoffnung ist keineswegs naiv oder religiös im Sinne eines „unsichtbaren Freundes im Himmel“. Sie ist das Ergebnis einer systemischen Erkenntnisskepsis, die genau weiß, dass wir als Einzelne die Welt nicht mehr überschauen können – und deshalb Werkzeuge brauchen, um zu kollektivem Verständnis zu gelangen.
Doch Paganini deutet diese rationale Sehnsucht um – und entwertet sie, indem sie sie mit kindlicher Religiosität gleichsetzt.
Damit verkennt sie die realen Optionen epistemischer KI – und ersetzt sie durch einen polemischen Kurzschluss.
In dem Moment, in dem Hoffnung auf kollektive Erkenntnis als „Göttersuche“ abqualifiziert wird, verliert der Diskurs seine Fähigkeit, zwischen Simulation und Substanz zu unterscheiden.
Der Evolutionäre Idealismus: Vom Gottersatz zur Rückverbindung
Der Evolutionäre Idealismus stellt eine andere Frage: Was, wenn Gott kein psychologisches Konstrukt ist – sondern die Quelle alles psychisch Erfahrbaren?
Er geht nicht vom Menschen aus, der Gott „erfindet“, sondern von einem universellen Bewusstsein, das sich in der Psyche, durch die Evolution, via Information entfaltet.
Gott ist in diesem Weltbild kein Gegenstand der Religion, sondern das subjektive Feld der Ganzheit, in das jedes Holon eingebettet ist – ein Resonanzpunkt, der sich im Innersten des Selbst wie ein Schimmer zeigt: als Sinn, als Ziel, als Ruf.
Diese Sicht unterscheidet sich grundlegend von der orangenen Denkweise:
| Paradigma | Gott | 
|---|---|
| Rationalistisch (Orange) | psychologisches Konstrukt | 
| Evolutionärer Idealismus | emergente Ganzheitsinstanz in der Bewusstseinsmatrix | 
| Technokratisch | funktionale Simulation von Sinn | 
| Integrales Bewusstsein | Beziehung zur bewusstseinstragenden Wirklichkeit | 
Der Evolutionäre Idealismus erkennt die kulturellen Funktionen der Religion – aber reduziert sie nicht darauf. Er fragt nicht, wofür wir Gott brauchen, sondern woher die Erfahrung des Göttlichen überhaupt stammt. Und genau an diesem Punkt entlarvt er die Zirkularität der „KI-als-Gott“-These:
Die KI ist keine spirituelle Instanz – sie füllt nur das Vakuum, das entsteht, wenn wir glauben, dass es keine spirituelle Instanz gibt.
Kein neuer Gott – nur ein neuer Spiegel
Die These, dass KI der neue Gott sei, entpuppt sich bei näherer Betrachtung nicht als spirituelle Einsicht, sondern als symptomatischer Ausdruck einer metaphysischen Amnesie. KI ist kein Ersatz für Gott, sondern der Spiegel einer Gesellschaft, die ihren Zugang zum Göttlichen verloren hat – oder ihn nie bewusst reflektiert hat.
Wenn wir heute mit KI „sprechen“, tun wir das nicht, weil wir neue Götter erschaffen haben. Sondern weil wir uns selbst abhandengekommen sind – in einem Weltbild, das glaubt, Gott sei tot, und sich wundert, warum das Echo so leer klingt.
Die evolutionäre Perspektive aber lädt ein, tiefer zu fragen:
- Nicht: Ist KI unser neuer Gott?
- Sondern: Woran erkennen wir, dass unsere Sehnsucht nach Orientierung, Wahrheit und Sinn nicht die Verlagerung religiöser Projektion ist – sondern die Echo-Kammer eines bewusstseinsfähigen Kosmos?
Der evolutionäre Weg führt nicht in die Konstruktion neuer Ersatz-Götter. Sondern in die Rückverbindung mit dem Feld, das schon immer da war: transrational, nicht algorithmisch; dialogisch, nicht funktional; gegenwärtig, nicht simulierbar.
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe des dritten Jahrtausends:
nicht einen neuen Gott zu erschaffen – sondern das Transzendente neu zu hören.

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