Zwischen den Stufen – Warum unsere Gegenwart ein evolutionärer Prüfstein ist

Ein Essay von Gerhard Höberth

Einleitung: Die Gleichzeitigkeit der Widersprüche

Wir leben in einer paradoxen Zeit: Hochtechnologie trifft auf Mythen, systemische Komplexität auf Stammesdenken, künstliche Intelligenz auf religiöse Dogmatik. Der planetare Diskurs wirkt zersplittert, überhitzt, regressiv – und zugleich bereitet sich unter der Oberfläche ein Wandel vor, dessen Konturen sich nur aus einer metaperspektivischen Sicht erfassen lassen. Einen solchen erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen liefert das Modell von Spiral Dynamics.

Spiral Dynamics ist ein entwicklungspsychologisches Modell, das ursprünglich auf Clare W. Graves zurückgeht und später von Don Beck und Chris Cowan popularisiert wurde. Es beschreibt die Entwicklung individueller wie kollektiver Wertesysteme in acht (potenziell mehr) farbcodierten Bewusstseinsstufen. Diese Stufen sind nicht bloße Meinungsunterschiede, sondern tief verwurzelte Wahrnehmungsmuster der Welt – inklusive ihrer Ethik, Machtstrukturen, Autoritätsverständnisse und Problemlösungsstrategien.

Höhere Stufen transzendieren und inkludieren die vorhergehenden. Sie heben diese nicht auf, sondern integrieren deren Leistungen in ein erweitertes Ordnungsmodell. Jede Stufe ist Ausdruck einer bestimmten Lebensrealität und Antwort auf spezifische existenzielle Herausforderungen. Sie ist also funktional notwendig, nicht moralisch überlegen oder unterlegen.

Die acht Hauptstufen sind:

  • Beige: Überleben und Instinkt. Nahrung, Schutz, unmittelbare Existenzsicherung – typisch für frühkindliche Entwicklung oder extreme Notlagen.
  • Purpur: Stammesdenken. Magisches Weltbild, Schutz durch Zugehörigkeit, Rituale und Ahnenkult. Soziale Kohäsion ist zentral.
  • Rot: Macht und Durchsetzung. Impulsives Ich, das nach Dominanz strebt. Hier gilt: Stärke setzt Recht. Typisch für kriegerische Stammesführer.
  • Blau: Ordnung und Moral. Eine transzendente Ordnung stiftet Sinn, Gehorsam, Regeln und Opferbereitschaft. Religionen, Bürokratien und Nationalstaaten operieren oft auf dieser Ebene.
  • Orange: Rationalität und Fortschritt. Wissenschaft, Leistung, Erfolg und persönliche Autonomie dominieren. Die Welt wird als analysierbar und optimierbar betrachtet.
  • Grün: Empathie und Pluralismus. Gleichheit, Gemeinschaft, Inklusion, ökologisches Bewusstsein. Alles ist relativ – Harmonie ist das Ziel.
  • Gelb: Systemisches Denken und Integration. Alle vorherigen Stufen werden als funktionale Module anerkannt. Gelb sieht die Welt als vernetztes System und sucht effektive Lösungen ohne moralische Überheblichkeit.
  • Türkis: Holistische Ganzheit. Weltbewusstsein, planetare Verantwortung, spirituelle Kohärenz. Bisher eher visionär als empirisch verbreitet.

Diese Stufen folgen keinem linearen Fortschritt. Vielmehr bilden sie ein dynamisches Resonanzfeld, in dem Regressionen (z. B. durch kollektive Traumata oder Unsicherheit) genauso möglich sind wie Sprünge zur nächsthöheren Ordnung. Ein Wechsel zwischen den Stufen kann evolutionär (langsam und stabilisierend) oder revolutionär (disruptiv) verlaufen.

Die entscheidende Herausforderung besteht darin, nicht auf einer Stufe zu verharren oder sie zu absolutisieren, sondern deren Potenziale und Grenzen kontextsensibel zu integrieren. Nur so kann sich eine Gesellschaft resilient entwickeln.
Sehen wir uns nun exemplarisch ein paar Spannungsfelder an, die diese Übergänge in unserer Zeit prägen.

I. Religiöser Fundamentalismus – Die Regression auf Rot zur Verteidigung von Blau

Ein oft übersehener, aber zentraler Konflikt unserer Gegenwart ist der religiös-fundamentalistische Terrorismus. Er ist nicht bloß Ausdruck religiöser Dogmatik, sondern spiegelt ein tieferes, memetisches Ringen innerhalb der Spiraldynamik wider. Fundamentalismus tritt häufig auf, wenn die blaue Ebene – geprägt von moralischer Ordnung, religiösen Wahrheiten und absolutistischen Normen – durch den Siegeszug des orangen Mems herausgefordert wird. Orange bringt Säkularität, wissenschaftliche Rationalität, individuelle Autonomie und ökonomische Effizienz mit sich – alles Werte, die Blau als existenzielle Bedrohung empfindet.

Statt jedoch im Sinne einer integrativen Entwicklung auf Grün oder Gelb zuzugehen, geschieht in solchen Fällen oft etwas anderes: Die Verteidigung von Blau erfolgt durch einen Rückfall auf Rot – auf archaische Machtlogik, gewaltsame Durchsetzung, Märtyrertum, Stammesdenken und emotionale Mobilisierung. Der Dschihadismus etwa ist kein bloßes Fortbestehen des traditionellen Islams, sondern eine Regression auf eine frühere Bewusstseinsstruktur zur Bewahrung einer bedrohten blauen Ordnung.

Diese Art der Regression ist hochgefährlich, weil sie sich modernster Technologien und globaler Kommunikationsmittel bedient, dabei aber aus einem vormodernen Bewusstseinszustand agiert. Sie ist nicht rückständig im technischen Sinne, sondern in der inneren Verarbeitungskompetenz. Der religiöse Fundamentalismus ist damit eine paradoxe Allianz: Er verteidigt Blau – die Ordnung – mit den Mitteln von Rot – der Zerstörung. Und gerade in dieser Rückfallebene liegt seine emotionale Wucht und Gefährlichkeit. Die Transformation zu Orange wird verweigert, weil Sinn und Ordnung verloren zu gehen drohen.

Verstehen wir diesen Zusammenhang, wird deutlich: Der Kampf gegen Terror ist nicht nur militärisch oder ideologisch zu führen, sondern entwicklungspsychologisch. Es geht darum, sichere Räume für Transformation zu schaffen, die Blau nicht als feindlich, sondern als integrierbar erfahren lassen – und damit langfristig den Weg nach Grün und darüber hinaus öffnen.

II. Neoreaktion und „Dark Enlightenment“ – Der Rückfall ins Technoblau

Die sogenannten neoreaktionären Bewegungen (z. B. Curtis Yarvin, Nick Land) sind intellektuell anspruchsvolle, jedoch reaktionäre Strömungen, die sich gegen die liberal-pluralistische Moderne wenden. Sie entstanden im digitalen Raum der 2000er-Jahre, vor allem in Blogs und Online-Foren, als Gegenbewegung zu dem, was sie als moralischen und politischen Verfall westlicher Demokratien betrachten. Inhaltlich propagieren sie eine technokratisch-autoritäre Neuordnung der Gesellschaft: Demokratie wird als ineffizient und manipulierbar angesehen, stattdessen sollen elitäre Führungsmodelle nach dem Vorbild von Konzernen (CEO-Strukturen), Monarchien oder algorithmisch gesteuerten Systemen die politische Ordnung bestimmen. Der Mensch wird dabei nicht als gleichwertiges Subjekt, sondern als fehlerbehaftetes Objekt kollektiver Steuerung betrachtet. Diese Denkweise greift zwar auf autoritäre Muster (Blau) zurück, formuliert sie aber in der Sprache der Effizienz, Rationalität und technologischen Steuerung (Orange) – eine gefährliche Synthese aus Kontrollsehnsucht und modernem Elitismus.

Diese Haltung ist Ausdruck einer kollektiven Angst vor Kontrollverlust: Die moralisch-pluralistische Offenheit des grünen Weltbildes (Wokeness, Diversität, Relativismus) wird als Chaos erlebt – und mit technokratischen Kontrollfantasien beantwortet. Das Ergebnis: die erste Pathologie des Übergangs zwischen Orange und Grün, in der Rationalität ohne Empathie zu Nihilismus wird und Ordnung zur extern aufgezwungenen Systemarchitektur degeneriert. Die Transformation zu Grün wird verweigert, weil irrationales Chaos befürchtet wird.

III. Die andere Seite der Medaille: Das Mean Green Meme

Doch auch das grüne Mem – das für Empathie, Gleichheit und Diversität steht – kennt seine Schatten. Die zweite Pathologie der Transformation von Orange nach Grün ist jene Form von Pluralismus, bei der die darunter liegende Ebene nicht integriert wird. Der Mean Green Meme ist eine Hypermoralisierung, in der Toleranz zur Waffe wird und jede Form von Differenz oder Hierarchie als Unterdrückung interpretiert wird. Was als Inklusion beginnt, kann sich in identitätspolitischen Absolutismus verkeilen, in dem die eigene moralische Position sakrosankt ist und jede Kritik als Gewaltakt gilt.

Dabei geht oft die Fähigkeit verloren, zwischen funktionaler Ungleichheit und ungerechter Ausgrenzung zu unterscheiden. Auch diese Pathologie ist eine Art von Transformationsverweigerung – in diesem Fall die Weigerung, orange Errungenschaften (Differenzierung, Leistung, rationales Argument) in ein höheres Verständnis zu integrieren. Eine Verabsolutierung von Grün führt zur Fixierung und zur Projektion moralischer Reinheit – ein Zeichen unreifer Entwicklung.

IV. Die Schwelle: Gelb als integrative Bewusstseinsebene

Hier entwickelt sich eine völlig neue Qualität: Was unterscheidet diese „zweite Bewusstseinsstufe“ (Second Tier) ab Gelb nun von den darunterliegenden Mems? Sie erkennt, dass jede Stufe ihre Berechtigung hat – und zugleich ihre Begrenzungen. Gelb fragt nicht mehr: „Wer hat recht?“ – sondern: „Welche Perspektive ist in welchem Kontext funktional?“

Gelb bedeutet:

  • Kontextbewusstsein statt dogmatischer Wahrheit.
  • Integration statt Ausschluss.
  • Differenzierung ohne Abwertung.
  • Die Fähigkeit, Komplexität auszuhalten – ohne vorschnelle Vereinfachung.
  • Vertikale Toleranz gegenüber früheren Stufen.

Es ist die erste Stufe, die mit der Gleichzeitigkeit der kulturellen Spannungen nicht kämpft, sondern sie versteht, ordnet, überführt. Reife zeigt sich hier nicht im moralischen Urteil, sondern in der Fähigkeit zur Resonanz mit der ganzen Spannbreite menschlicher Erfahrung.

Doch Gelb ist selten – denn es verlangt kognitive, emotionale und spirituelle Komplexität. Es kann den Despoten verstehen, ohne ihn zu entschuldigen. Es kann die Woke-Perspektive würdigen, ohne ihr blind zu folgen. Es kann Orange in seinen Leistungen anerkennen und gleichzeitig seine Sinnentleerung kritisieren. Gelb steht nicht über den Stufen – es bewegt sich zwischen ihnen mit navigierender Achtsamkeit.

V. Zwischen Grün und Gelb: Der kritische Posthumanismus

Ein vielversprechender Übergangsraum zwischen Grün und Gelb ist der kritische Posthumanismus, wie ihn Denkerinnen wie Rosi Braidotti und Donna Haraway vertreten. Er dekonstruiert die Idee des autonomen, männlich-westlichen Subjekts, das sich von Tier, Technik und Natur abgrenzt – und denkt das Menschsein als relationale, vernetzte, ko-evolutive Existenzform.

Diese Perspektive wurzelt im grünen Ethos (Dekonstruktion von Hierarchien, Kritik an Speziesismus und Kolonialismus), weist aber bereits gelbe Merkmale auf:

  • Sie denkt systemisch.
  • Sie integriert technologische und ökologische Dimensionen.
  • Sie verzichtet auf moralische Absolutismen.
  • Sie erlaubt neue Formen von Verbundenheit – auch mit dem Nicht-Menschlichen.

Der Posthumanismus, richtig verstanden, ist kein Rückschritt, sondern eine notwendige Erweiterung des Humanen. Er bereitet den Boden für eine holistische Ethik im Sinne Türkis.

VI. Der evolutionäre Idealismus: Bewusstsein als integrative Resonanz

Aus Sicht des Evolutionären Idealismus lässt sich die gesamte Spiraldynamik als Ausdruck wachsender Bewusstheit deuten – nicht im moralischen Sinn, sondern als zunehmende Fähigkeit zur kohärenten Informationsverarbeitung im Innen und Außen.

  • Die Neoreaktion steht für die Angst vor emergenter Komplexität – und sucht Ordnung durch äußere Kontrolle.
  • Das Mean Green Meme steht für die Angst vor Differenz – und sucht Sicherheit in moralischer Homogenität.
  • Gelb hingegen sucht keine Kontrolle, sondern Resonanz. Es erkennt: Ordnung ist kein äußerer Zwang, sondern eine emergente Qualität aus Verständigung, Kontextualisierung und Selbsttransformation.

VII. Das evolutionäre Kraftfeld unserer Zeit

Unsere Gegenwart ist ein dynamisches Spannungsfeld, in dem sich folgende Kräfte überlagern:

  • Entwicklungskräfte (Gelb/Türkis): Emergenz, Ko-Kreativität, Integration.
  • Konservierende Kräfte (Blau/Orange): Stabilität, Kontrolle, Effizienz.
  • Regressive Kräfte (Rot/Blau): Machtlogik, Autoritarismus.
  • Pathologien: Hypermoral, Technokratismus, Populismus, Nihilismus.
  • Beschleuniger: Technologie, ökologische Krisen, globale Rückkopplung.

Die entscheidende Aufgabe besteht nicht darin, gegen diese Kräfte anzukämpfen, sondern sie in eine neue Systemlogik zu überführen. Nicht alle müssen auf derselben Stufe stehen – entscheidend ist die Fähigkeit zur vertikalen Koexistenz und Kooperation.

VIII. „Verstehen“ bedeutet nicht „Einverstanden sein“!

Viele glauben, eine integrale Perspektive sei ein Aufruf zur Neutralität. Das Gegenteil ist der Fall: Etwas zu verstehen, bedeutet nicht, mit ihm einverstanden zu sein. Verstehen heißt, die innere Logik eines Weltbildes, einer Handlung oder eines Mems nachvollziehen zu können – nicht es gutzuheißen oder zu rechtfertigen. Im Gegenteil: Nur wer versteht, kann wirksam widersprechen, gezielt eingreifen oder tragfähige Alternativen entwickeln. Verständnis ist die Voraussetzung für differenzierte Kritik, nicht deren Aufhebung.

Wer versteht, kann gezielt handeln.

Wer die Pathologie erkennt, muss ihr auch entgegentreten – nicht aus Überheblichkeit, sondern aus evolutiver Verantwortung.

Was wir heute brauchen, ist kein weiteres ideologisches Lager, sondern eine neue Art von Bewusstheit, die sich nicht mit ihrem eigenen Rechtfertigungsnarrativ zufrieden gibt, sondern das Ganze sieht – und seine Spannungen aushält.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

4 Antworten zu „Zwischen den Stufen – Warum unsere Gegenwart ein evolutionärer Prüfstein ist“

  1. […] meinem Artikel „Zwischen den Stufen“ habe ich das Spannungsfeld beschrieben, in dem sich die westlichen Demokratien aktuell […]

  2. Avatar von Frank Phi
    Frank Phi

    Du schwingst Dich richtig schön ein.

  3. Avatar von Tatyana von Leys

    Wie wunderbar geschrieben und klar strukturiert! Ich konnte für mich sehr viel mitnehmen und neue Zusammenhänge entdecken, wünschte es gebe alles in einem Buch!
    Danke für dieses Geschenk!

    1. Avatar von Gerhard Höberth

      Hallo Tatyana,
      diese Zusammenhänge der Entwicklungsstufen sind Teil meines Buches „Jenseits der Grenzen“ und dort etwas detaillierter ausgeführt.
      Direkt im Verlagsshop erhältlich:
      https://creastro-verlag.mybranchbob.com/homepage/jenseits-der-grenzen
      Oder im Buchhandel (auch online) unter der ISBN: 978-3-939078-17-3

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert