Die „neue“ Männlichkeit

Die sakrale Gegenmoderne: Warum der Rückschritt kein Fortschritt ist

1. Ein gefährlicher Rückwärtsgang der Geschichte

In vielen Regionen der Welt – und zunehmend auch in westlichen Demokratien – ist eine beunruhigende Entwicklung zu beobachten: Der Rückgriff auf patriarchale, autoritäre, religiös-fundamentalistische und nationalistische Ideologien gewinnt wieder an Kraft. Diese „sakrale Gegenmoderne“ stellt eine Rebellion gegen die Errungenschaften der Aufklärung dar: gegen Gleichberechtigung, individuelle Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, wissenschaftliche Rationalität und pluralistische Demokratie.

Was dabei häufig als „Rückbesinnung auf Werte“ verkauft wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gezielte Reaktivierung vormoderner Herrschaftsstrukturen – insbesondere solcher, die auf männlicher Dominanz, Triebunterdrückung und kollektivistischer Unterwerfung beruhen. Frauen, LGBTQ-Personen, ethnische Minderheiten, Andersgläubige – sie alle werden in dieser reaktionären Ideologie wieder als Bedrohung eines vermeintlich „natürlichen“ Ordnungsgefüges dargestellt.

Doch warum taucht diese Tendenz gerade jetzt wieder auf? Was treibt den Rückfall in vormoderne Machtverhältnisse an?


2. Wilhelm Reich und die Psychologie der autoritären Regression

Bereits 1933 analysierte Wilhelm Reich in seinem Werk Die Massenpsychologie des Faschismus, wie autoritäre Ideologien auf der gezielten Unterdrückung von Sexualität und Lebensfreude beruhen. Die patriarchale Familie, so Reich, sei die Keimzelle des autoritären Staates. In ihr wird Gehorsam eingeübt, die freie Entfaltung des Ichs gehemmt, die Triebkraft des Körpers in Schuld und Angst umgewandelt. Diese psychische Struktur macht den Menschen empfänglich für Führerkulte, für dogmatische Weltbilder – und für Hass auf alles Abweichende.

Reichs These ist bis heute aktuell: Die patriarchale Ordnung ist nicht nur ein soziales oder ökonomisches System – sie ist ein psychodynamischer Komplex, der durch die Repression von Lust und Eigenständigkeit funktioniert. Der Wunsch nach Unterordnung, nach klaren Hierarchien, nach „Ordnung“ im vermeintlichen Chaos der Freiheit ist Ausdruck einer verdrängten Lebendigkeit, die sich nicht anders als durch Kontrolle zu behaupten weiß.


3. Der Ursprung liegt tiefer: Matrilineare Frühgesellschaften und die Unsicherheit des Mannes

Spannend ist, dass die moderne Archäogenetik in den letzten Jahren ein neues Licht auf die Sozialstrukturen der Urgeschichte geworfen hat. Anhand mitochondrialer DNA – die ausschließlich mütterlich vererbt wird – konnten Forscherinnen und Forscher nachweisen, dass es in vielen neolithischen Kulturen matrilineare und matrilokale Gemeinschaften gab. In Çatalhöyük etwa, einer 9.000 Jahre alten Siedlung in Anatolien, zeigen genetische Analysen, dass die Haushalte an der mütterlichen Linie orientiert waren. Der Mann zog zur Frau, nicht umgekehrt.

Vergleichbare Muster wurden in frühen Gesellschaften in China, Großbritannien und anderen Regionen gefunden. Auch wenn nicht von einem weltweiten Matriarchat gesprochen werden kann, so ist doch evident, dass Frauen in vielen Kulturen zentrale soziale, rituelle und ökonomische Rollen innehatten.

Was also veränderte sich?

Ein Schlüssel liegt im Wissen um die Vaterschaft. Während die Mutter biologisch eindeutig identifizierbar war, blieb die Rolle des Vaters lange Zeit diffus. Erst mit wachsendem Wissen über Zeugung begann sich das soziale Interesse der Männer an Kontrolle zu wandeln: Wer seine Gene weitergeben will, muss sich der Vaterschaft sicher sein. Aus dieser Unsicherheit erwuchs eine Sexualmoral, die zunehmend restriktiver wurde – bis hin zu Besitzdenken, Keuschheitszwang und Ehrverbrechen. Mit dem patriarchalen Zugriff auf die weibliche Sexualität begann die systematische Marginalisierung der Frau.


4. Patriarchat, Gewalt und Krieg – eine unheilige Allianz

Was folgt, ist eine Jahrtausende alte Geschichte von Unterdrückung, religiöser Kontrolle und institutionalisierter Gewalt. Triebunterdrückung erzeugt Aggression, und diese Aggression kanalisiert sich in hierarchischen Ordnungen oft nach außen: in Krieg, Rache, Machtdemonstration.

Es ist kein Zufall, dass autoritäre Systeme – ob nun im Iran, in Russland oder in christlich-fundamentalistischen Kreisen der USA – gleichzeitig frauenfeindlich, homophob, wissenschaftsfeindlich und kriegstreiberisch sind. Sie alle nähren sich aus derselben Quelle: der Angst vor der Freiheit des anderen, vor der Komplexität der Welt, vor der Selbstverantwortung.

Der patriarchale Rollback ist somit kein kulturelles Missverständnis, sondern ein gezielter Machtmechanismus, der sich als „Tradition“ tarnt.


5. Die Gegenwart als Scheideweg: Aufklärung oder Rückfall

Wir stehen heute an einem historischen Scheideweg. Die Rückkehr autoritärer Ideologien ist kein vorübergehendes Phänomen – sie ist die panische Reaktion eines sterbenden Systems auf seinen Kontrollverlust. In einer globalisierten, pluralistischen, digital vernetzten Welt verliert das alte Paradigma des „starken Mannes“, der alles unterwirft, zusehends an Wirksamkeit. Doch das macht es nicht ungefährlich – im Gegenteil: Die finale Wut des Patriarchats kann zerstörerisch sein.

Gerade deshalb braucht es eine klare Haltung. Es braucht Menschen, die nicht aus Angst vor Spaltung verstummen, sondern mutig für eine gerechte, offene, lebendige Gesellschaft einstehen. Eine Gesellschaft, in der Gleichberechtigung, sexuelle Vielfalt und kulturelle Diversität keine „Bedrohung“ sind, sondern Ausdruck einer höheren Form von Zivilisation.


6. Solarpunk statt Sakralmacht – eine Zukunftsvision

Der Gegenentwurf zur sakralen Gegenmoderne ist keine Rückkehr zur Vergangenheit, sondern der Sprung in eine neue Moderne: eine solarpunk-inspirierte Gesellschaft, die Technologie, Nachhaltigkeit, Kreativität und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Hier geht es nicht um Gleichmacherei, sondern um Gleichwürdigkeit. Nicht um Macht, sondern um Resonanz. Nicht um Kontrolle, sondern um Verbindung.

In einer solchen Gesellschaft ist die weibliche Perspektive nicht nur integriert, sondern essenziell: als Quelle für Beziehungskompetenz, Fürsorge, Ko-Kreativität und soziale Intelligenz. Aber auch Männer sind eingeladen, sich von den Fesseln der traditionellen Rollenerwartungen zu befreien – und zu ganzen Menschen zu werden.


7. Kein Fußbreit zurück

Die Geschichte zeigt: Fortschritt ist nie selbstverständlich. Jeder Schritt zur Befreiung musste errungen werden – gegen Widerstand, gegen Dogmen, gegen Gewalt. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass die emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte relativiert oder zurückgenommen werden.

Die sakrale Gegenmoderne will uns in ein Weltbild zurückstoßen, das längst überholt ist. Es liegt an uns, diesem Rückschritt mit Klarheit, Wissen und innerer Standfestigkeit entgegenzutreten. Nicht mit Hass – aber mit Entschlossenheit.

Die Zukunft gehört nicht denen, die zurück ins Dunkel wollen, sondern denen, die das Licht weitertragen.


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