Die Flucht vor der Komplexität

Rechter Eskapismus

Eskapismus ist ein altes Wort für eine moderne Haltung: die Flucht aus einer Realität, die zu schwierig, zu widersprüchlich oder zu schmerzhaft erscheint. Oft denken wir dabei an Serien, Computerspiele oder nostalgische Romane – an den Versuch, der Welt zu entkommen, indem man sich in andere Geschichten flüchtet. Doch auch Politik kann zur Bühne des Eskapismus werden.
Die Wahl rechter Parteien ist, in diesem Sinn, kein Zeichen von politischer Reife, sondern eine kollektive Fluchtbewegung vor der Zumutung der Gegenwart.

1. Die Überforderung des Bewusstseins

Wir leben in einer Zeit, in der die Welt nicht mehr in einfache Kategorien passt. Globalisierung, Migration, Digitalisierung und der ökologische Wandel haben die vertrauten Grenzen aufgelöst. Was früher als selbstverständlich galt – die Nation, der Arbeitsplatz, die Geschlechterrolle, die Wahrheit – ist heute in Bewegung geraten.
Für viele Menschen bedeutet das: Verlust an Übersicht, Verlust an Kontrolle, Verlust an Sinn.
Rechte Parteien bieten darauf eine psychologisch naheliegende Antwort: Sie versprechen, die Komplexität zu reduzieren. Sie schaffen klare Feindbilder, einfache Erklärungen und eine vermeintlich sichere Identität.
Doch diese Einfachheit ist trügerisch. Sie ist die politische Variante des „Zurück unter die Decke Kriechens“, wenn das Licht der Wirklichkeit zu grell wird.

2. Der Mythos der verlorenen Ordnung

Rechte Bewegungen arbeiten nicht mit Argumenten, sondern mit Mythen.
Sie erzählen von einer goldenen Vergangenheit, in der alles noch „seinen Platz“ hatte.
Diese Erzählung erfüllt eine psychologische Funktion: Sie erzeugt Geborgenheit, wo Unsicherheit herrscht.
Doch sie tut das, indem sie eine Welt beschwört, die nie existiert hat.
Der „starke Mann“, das „wahre Volk“, die „reine Kultur“ – das sind Projektionen, die die Angst vor der Zukunft in Nostalgie verwandeln.
So wird Politik zum Eskapismus auf gesellschaftlicher Ebene: Man flüchtet nicht in Fantasiewelten, sondern in ein idealisiertes Gestern.

3. Die Sehnsucht nach Autorität

Eskapismus bedeutet auch: sich entlasten von Verantwortung.
In einer komplexen Welt, in der jeder gezwungen ist, selbst zu urteilen, wächst die Sehnsucht nach jemandem, der sagt, wo es langgeht.
Diese Sehnsucht macht den autoritären Charakter der Rechten so attraktiv.
„Ordnung“ wird zum Codewort für Unterwerfung, „Tradition“ zum Ersatz für Orientierung.
Man will nicht mehr frei sein müssen – man will wieder geführt werden.
So wird die Freiheit, die die Moderne dem Individuum schenkte, als Bürde empfunden.

4. Die Angst vor der Zukunft

Die eigentliche Triebkraft hinter diesem Eskapismus ist die Angst vor dem Wandel.
Viele spüren, dass die Welt an einem Kipppunkt steht – ökologisch, technologisch, kulturell.
Unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren, zu leben, steht infrage.
Wer das ahnt, aber nicht integrieren kann, greift nach der Bremse – auch wenn er damit den Zug entgleisen lässt.
Rechter Eskapismus ist daher weniger Ausdruck von Aggression als von Überforderung: ein instinktiver Versuch, das Unaufhaltsame anzuhalten.

5. Reife statt Regression

Das Gegenteil von Eskapismus ist nicht Zynismus, sondern Reife.
Reife bedeutet, Unsicherheit auszuhalten, ohne in Dogmen zu fliehen.
Es bedeutet, Wandel als Teil der Evolution zu begreifen – nicht als Bedrohung, sondern als Einladung.
In der Sprache von Spiral Dynamics könnte man sagen: Die rechte Regression ist ein Rückfall von den pluralistischen oder integrativen Ebenen in die ethnisch-traditionelle Zone des Bewusstseins.
Dort, wo Gemeinschaft nur noch als Abgrenzung funktioniert, wird Entwicklung blockiert.
Doch menschliche Entwicklung, kulturell wie spirituell, zielt auf Integration – auf die Fähigkeit, Widersprüche zu halten, ohne sie sofort auflösen zu müssen.

6. Die Verantwortung des Erwachens

Die Flucht in rechte Einfachheiten ist bequem, aber sie ist auch gefährlich.
Sie verführt dazu, Verantwortung abzugeben – nach unten an die Instinkte und nach oben an den „starken Mann“.
Doch eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht das Gegenteil: Menschen, die fähig sind, Komplexität zu denken, Ambivalenz zu ertragen und Wandel aktiv mitzugestalten.
Die Krise, in der wir uns befinden, ist daher nicht nur eine politische, sondern eine Bewusstseinskrise.
Wer ihr mit Eskapismus begegnet, verlängert das Alte.
Wer ihr mit Mut begegnet, bereitet das Neue vor.


Fazit:

Rechte Politik ist der Versuch, vor der Zukunft zu fliehen, indem man die Vergangenheit mythologisiert.
Doch die Zukunft lässt sich nicht abschaffen.
Man kann sich ihr nur verweigern – oder ihr reifer begegnen.


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