Vor kurzem stieß ich auf ein populäres Video mit dem Titel „The Truth About Keeping a Man“. Die zentrale Botschaft darin lautet sinngemäß: Eine Frau solle dem Mann das Gefühl geben, gebraucht zu werden – ihm kleine Gesten der Bestätigung schenken, wie das Öffnenlassen der Tür, damit er seine Rolle als Beschützer und Versorger spürt.
Nur wenn der Mann diesen Platz erhalte, so die These, könne eine Beziehung dauerhaft bestehen.
Auf den ersten Blick klingt das harmlos, ja beinahe charmant – eine Rückbesinnung auf galante, traditionelle Geschlechterrollen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich dahinter ein problematisches Weltbild: eines, das Männlichkeit und Weiblichkeit auf psychologische Abhängigkeiten reduziert und den Menschen selbst auf seine Funktion im Beziehungsgefüge beschränkt.
1. Das Menschenbild hinter der Botschaft
Das ist – bewusst oder unbewusst – eine infantilisierende Sicht auf Männlichkeit Der Mann erscheint im Video als Wesen, das emotional nur dann stabil bleibt, wenn es „gebraucht“ wird. Er wird nicht als selbstreflektiertes, reifes Subjekt gezeigt, sondern als jemand, der seine Identität erst durch die Frau findet. Ich möchte als Mann so nicht wahrgenommen werden.
Das ist – trotz gegenteiliger Absicht – eine Form der Entmündigung:
Der Mann wird zum Bedürftigen, die Frau zur emotionalen Versorgerin.
Die sinngemäße Übersetzung des Titels ist dabei verräterisch: „Wie halte ich mir einen Mann?“ Klingt fast, als ob gefragt wird, ob Käfighaltung noch zeitgemäß sei.
Damit kehrt ein uraltes Schema zurück – eines, das Männlichkeit mit Leistung und Nützlichkeit, Weiblichkeit dagegen mit Fürsorge und Nachgiebigkeit verknüpft.
Diese Polarität mag einst gesellschaftlich funktional gewesen sein, aber sie ist heute nicht mehr Ausdruck menschlicher Reife, sondern ein Echo vergangener Abhängigkeiten.
2. Die unsichtbare Einseitigkeit
Was in der Argumentation völlig fehlt, ist die andere Seite:
Was braucht die Frau, um sich in einer Beziehung getragen zu fühlen?
Wie kann der Mann eine Frau halten, ohne sie zu binden oder zu kontrollieren?
Wenn die Beziehung nur auf der Idee basiert, dass die Frau dem Mann Raum für sein Ego schafft, entsteht eine emotionale Ökonomie der Einseitigkeit: Die Frau dient als Spiegel männlicher Bedürftigkeit – ihre eigene Entfaltung bleibt zweitrangig.
Eine reife Partnerschaft kann aber nicht auf einer solchen Ungleichheit beruhen. Liebe, die auf subtiler Bedürftigkeit fußt, ist kein freies Band, sondern ein unausgesprochener Vertrag des Mangels.
3. Tradition als Flucht vor Unsicherheit
Der Erfolg solcher Videos zeigt eine tieferliegende Sehnsucht:
In einer Welt, in der Rollenbilder brüchig werden, sehnen sich viele nach Orientierung.
Doch statt die Unsicherheit als Chance zur Reifung zu begreifen, flüchten manche zurück in die Klarheit des Alten.
Das ist psychologisch verständlich – aber evolutionär und spirituell gesehen ein Rückschritt.
Tradition bietet zwar Halt, aber sie verwechselt Stabilität mit Stillstand und Stillstand mit Rückschritt.
Wenn wir als Menschheit – und als Liebende – weiterwachsen wollen, müssen wir lernen, uns nicht an festen Rollen, sondern an innerer Bewusstheit zu orientieren.
4. Der Weg zu einer neuen Beziehungsphilosophie
Eine moderne, aufgeklärte Beziehung ruht nicht mehr auf der Formel „Ich brauche dich“, sondern auf dem Bewusstsein „Ich wähle dich“.
Sie gründet auf Autonomie, nicht auf Bedürftigkeit; auf Resonanz, nicht auf Kompensation.
Ein wirklich reflektiertes Verständnis von Beziehung müsste auch fragen::
– Wie kann ein Mann eine Frau halten, ohne sie zu kontrollieren?
– Wie kann Nähe entstehen, wenn beide Partner autonom bleiben dürfen?
– Wie kann gegenseitige Abhängigkeit freiwillig und schöpferisch, statt unbewusst und kompensatorisch sein?
Wahre Nähe entsteht dort, wo beide Partner frei bleiben dürfen, aber dennoch in Verbindung stehen – nicht durch Rollen, sondern durch Präsenz, Achtung und Verwundbarkeit.
Das ist keine Abkehr von Geschlechtlichkeit, sondern ihre spirituelle Weiterentwicklung.
5. Emanzipation und Beziehung
Der Diskurs, den das Video aufgreift, gehört zu einem größeren Trend, den man als „neotraditionelle Beziehungsideologie“ bezeichnen könnte. Diese reagiert auf die Verunsicherung moderner Geschlechterrollen, indem sie alte Strukturen idealisiert – anstatt sie kritisch zu hinterfragen. Philosophisch gesehen wäre es viel fruchtbarer, zu fragen: Wie sieht Bindung in einer Welt aus, in der beide Geschlechter gleich autonom, aber auch gleich verletzlich sind? Eine mögliche Antwort lautet:
- Nicht „Gebrauchtwerden“ ist der Schlüssel, sondern gegenseitige Wertschätzung.
 
- Nicht „Abhängigkeit“ hält eine Beziehung, sondern bewusste Bezogenheit – ein freiwilliges Sich-Zuwenden, ohne Bedürftigkeit.
 
Eine moderne, egalitäre Sichtweise würde sagen:
- Männer und Frauen sind nicht Komplementärwesen, sondern Ko-Schöpfer einer gemeinsamen Wirklichkeit. Das würde auch nicht-heterosexuelle Beziehungen nicht ausschließen.
 
- Beziehung ist keine Bühne, auf der der eine den anderen „braucht“, sondern ein Raum, in dem beide sich gegenseitig in ihrem Sein erkennen und fördern.
 
- Nähe entsteht nicht durch Rollen, sondern durch gegenseitige Präsenz, Verwundbarkeit und Respekt.
 
In diesem Sinn wäre „einen Mann halten“ oder „eine Frau halten“ gar keine sinnvolle Formulierung mehr – weil beide frei bleiben dürfen, und gerade diese Freiheit die Beziehung nährt.
Fazit:
Das Video „The Truth About Keeping a Man“ steht stellvertretend für eine Strömung, die Orientierung sucht, aber sie am falschen Ort findet: in der Vergangenheit.
Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie Liebe im 21. Jahrhundert gelebt werden kann, müssen wir uns von der Idee lösen, jemand „gehöre“ uns oder müsse uns „brauchen“.
Denn wahre Liebe beginnt dort, wo die Freiheit des anderen nicht als Bedrohung, sondern als Einladung empfunden wird – zur gemeinsamen Evolution.

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