Die kognitive Dissonanz linker Solidarität

Warum progressive Bewegungen oft regressiven Kräften dienen.

Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Transformationen. Die Welt ringt mit dem Übergang in eine neue Zivilisationsstufe: Pluralität statt Homogenität, Kooperation statt Herrschaft, Empathie statt Dominanz, nachhaltige Systeme statt fossiler Ausbeutung, digitale Wissensgesellschaften statt veralteter Informationseliten. Diese Veränderungen sind nicht bloß technischer oder ökonomischer Natur – sie betreffen die Grundstruktur unserer kulturellen, moralischen und sozialen Selbstverständnisse.

Doch während diese neue Welt an vielen Stellen bereits durchscheint, formiert sich gleichzeitig ein heftiger, globaler Abwehrkampf des „Alten“ gegen das „Neue“. Dieser Kampf zeigt sich in scheinbar voneinander unabhängigen Strömungen: religiösem Fundamentalismus, Wissenschaftsfeindlichkeit, Nationalismus, Homophobie, Antifeminismus, Fossillobbyismus, LGBTQ-Gegnerschaft, pauschalen Drogenverboten, Anti-Wokeness-Rhetorik, Verteufelung neuer Familienmodelle und einer toxischen Nostalgie nach einer autoritären Ordnung vergangener Tage.

Was auf den ersten Blick wie eine disparate Liste gesellschaftlicher Konfliktlinien aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine einzige Abwehrbewegung alter Machtstrukturen. Es ist ein kultureller Todeskampf jener Ordnung, die auf Hierarchie, Kontrolle und Ausgrenzung basiert. Und das Verstörendste daran: Auch viele progressive Stimmen verstricken sich in diesen Abwehrkampf, ohne es zu bemerken – oft aus moralischem Eifer oder ideologischer Einseitigkeit.


1. Die gemeinsame Wurzel:
Der Abwehrkampf des Alten

All diese Strömungen eint ein strukturelles Muster: Sie wehren sich gegen die Auflösung von Machtmonopolen und Identitätsordnungen, die lange Zeit das gesellschaftliche Gefüge dominierten. Das Patriarchat verliert an Legitimität, fossile Industrien an Zukunft, Nationalstaaten an Souveränität, traditionelle Religionssysteme an Deutungsmacht, kulturelle Reinheitsvorstellungen an Realität.

Diese Transformation wird von jenen Kräften, die an den alten Machtverhältnissen festhalten, als existenzielle Bedrohung empfunden. Sie erschüttert die tiefsten Fundamente kultureller Identität, die oft nicht als soziale Konstruktionen, sondern als „naturgegeben“ wahrgenommen werden. Daraus entsteht eine kollektive Regression: zurück zu Einfachheit, Autorität, „gesunden Menschenverstand“, zur alten „Ordnung“, in der Geschlecht, Nation, Glaube und Identität klar definiert und festgeschrieben waren. Diese Rückwärtsbewegung wird als Rettung verklärt – ist aber in Wahrheit eine Verweigerung der Wirklichkeit.


2. Psychologische Mechanismen:
Warum progressive Bewegungen blind für Regressivität sein können

a) Kulturelle Prägung Viele linke Bewegungen sind in einem postmodernen Denkklima sozialisiert, in dem Dekonstruktion, Perspektivwechsel und Betroffenheit zentrale Werte darstellen. Die Identifikation mit den „Unterdrückten“ ist tief moralisch verwurzelt – sie gilt als unbedingte Haltung. Diese Prägung erschwert es jedoch, in Gruppen, die als Opfer wahrgenommen werden, auch eigene repressive, autoritäre oder fundamentalistische Züge zu erkennen. Die einfache Gleichung „unterdrückt = gut“ ist ein gefährlicher Kurzschluss.

b) Postkoloniale Schuldgefühle Der berechtigte Versuch, die historischen und gegenwärtigen Verbrechen des Kolonialismus, Rassismus und kulturellen Imperialismus aufzuarbeiten, führt bei vielen zu einem moralischen Automatismus: Wer Opfer kolonialer Gewalt war oder ist, gilt als immun gegen ideologische Kritik. So entsteht ein Reflex: Was gegen den Westen ist, muss fortschrittlich sein. Diese Haltung übersieht jedoch, dass auch Opfer repressive Weltbilder vertreten können – etwa wenn sie sich auf vormoderne Gottesstaaten, autoritäre Familienbilder oder kollektivistische Geschlechterrollen berufen.

c) Fehlendes integrales Machtverständnis Ohne entwicklungspsychologische oder systemtheoretische Perspektive erscheinen alle Machthierarchien als gleichermaßen unterdrückend. Es wird nicht unterschieden zwischen einem liberalen Verfassungsstaat, der Rechtsgleichheit garantiert, und einem fundamentalistischen Kalifat, das auf religiöser Unfreiheit und Geschlechterapartheid basiert.

So entsteht die paradoxe Situation, dass man etwa in Gaza im Namen der Menschenrechte eine Organisation wie die Hamas verteidigt – obwohl sie selbst zutiefst menschenfeindlich handelt: frauenverachtend, queerfeindlich, antisemitisch und autoritär. Diese Dissonanz wird oft nicht erkannt – oder verdrängt.


3. Das Mean Green Meme
und der rechte Gegenschlag

Die Kritik an „Wokeness“, Political Correctness und linker Identitätspolitik, wie sie aus konservativen oder rechten Kreisen kommt, bezieht sich oft auf reale Übertreibungen des sogenannten Green Meme (nach Spiral Dynamics). Hier manifestieren sich Symptome einer unreifen postmodernen Ethik: moralische Selbstüberhebung, rigide Sprachkontrolle, Abwertungen von abweichenden Meinungen, eine Tendenz zur sozialen Ächtung (Cancel Culture) und zur Emotionalisierung von Diskursen.

Dieser überzogene Moralismus führt bei vielen Menschen zu Abwehr, Ermüdung oder Trotz. Linke Diskurse werden dann als bevormundend, elitär oder dogmatisch wahrgenommen. Das Problem: Diese Fehlentwicklungen sind real – doch statt sie differenziert zu korrigieren, nutzen rechte Akteure sie als Legitimation für ihren Generalangriff auf Fortschritt, Diversität, Klimaschutz, Wissenschaft und Pluralität.

So entsteht ein Teufelskreis: Die Regression des Konservatismus wird durch die Regressivität der Postmoderne gespiegelt – und beide bestärken sich gegenseitig.


4. Der Fall Israel:
Der perfekte Sündenbock der postmodernen Kognition

Israel vereint aus Sicht vieler regressiver und postmodern-linker Akteure mehrere Projektionsflächen für ihren Unmut:

  • Es ist westlich, aber kein klassischer „weißer Kolonialstaat“.
  • Es ist jüdisch – also selbst jahrhundertelang verfolgt – aber heute militärisch stark.
  • Es steht als säkularer Staat für Aufklärung, Wissenschaft, Demokratie – in einer Region, die stark religiös-fundamentalistisch geprägt ist.

Israel repräsentiert damit eine Art „zivilisatorisches Paradox“: eine Minderheit mit Macht, eine verfolgte Gruppe mit Selbstbehauptung, ein wissenschaftlicher Staat im religiösen Raum. Das macht Israel für viele zur idealen Projektionsfläche – nicht nur für Antisemitismus, sondern auch für jenen ressentimentgeladenen Antiwestlismus, der sich als linker Internationalismus tarnt.

Gleichzeitig wird die Hamas verklärt – als „Befreiungsbewegung“, als antikolonialer Akteur. Dabei wird ausgeblendet, dass diese Bewegung nicht für Menschenrechte kämpft, sondern für eine theokratische Ordnung, die sämtliche Errungenschaften der Aufklärung auslöschen will.

Dieser moralische Kurzschluss ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines kognitiven Defizits, das darin besteht, jede unterdrückte Gruppe automatisch mit Fortschritt, Emanzipation oder Gerechtigkeit gleichzusetzen – ohne zu hinterfragen, ob sie selbst repressiv, autoritär oder fundamentalistisch agiert.

Die Hamas und ähnliche Gruppen nutzen dieses Defizit gezielt für ihre Propaganda: Sie inszenieren sich als antikoloniale Befreier und appellieren an die westliche Schuldlogik, während sie faktisch die Errichtung eines autoritären Gottesstaates betreiben. Diese Instrumentalisierung westlicher Empathie ist eine der subtilsten Formen ideologischer Manipulation unserer Zeit.

Zwischenruf: Kritik an Israels Vorgehen versus Verteidigung der Hamas

Ein häufiger Einwand lautet: Man verteidige keineswegs die Ziele der Hamas, wenn man Israels militärisches Vorgehen kritisiere. Diese Unterscheidung ist wichtig – und muss ernst genommen werden. Natürlich ist es legitim, staatliches Handeln zu hinterfragen. Doch was in der Debatte oft vergessen wird, ist der Kontext, in dem Israels Handeln stattfindet: Ein demokratischer Staat verteidigt sich gegen eine terroristische Organisation, deren erklärtes Ziel die Vernichtung dieses Staates und die Tötung aller Jüdinnen und Juden ist.

Die Hamas betreibt eine perfide Form der Kriegsführung: Sie versteckt sich gezielt in dicht besiedelten Wohngebieten, missbraucht Schulen, Krankenhäuser und Moscheen als Waffenlager und Kommandozentralen – und gefährdet damit vorsätzlich die eigene Bevölkerung. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch ein klarer Bruch des humanitären Völkerrechts. Der Versuch, zivile Opfer als Schutzschild zu instrumentalisieren, ist keine Verteidigung – es ist ein doppeltes Kriegsverbrechen: gegen Israel und gegen das eigene Volk.

Zugleich verschleiert die Hamas durch gezielte Propaganda ihre Verantwortung für das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Israel hingegen ist verpflichtet, sein Existenzrecht zu verteidigen. Wenn es Hilfslieferungen blockiert, die eindeutig in die Hände der Hamas gelangen würden, handelt es – gestützt auf Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung – im Rahmen des Völkerrechts. Dass Israel gleichzeitig alternative Wege schafft, um humanitäre Hilfe an der Hamas vorbei zu organisieren, wird in der öffentlichen Debatte oft unterschlagen.

Die kognitive Dissonanz entsteht also genau dort, wo die Täter-Opfer-Relation umgekehrt wird: Die Hamas inszeniert sich als Opfer – und nutzt westliche Schuldgefühle, um Sympathie für ihre Sache zu generieren. Doch wer Israels Selbstverteidigung einseitig dämonisiert und dabei das eigentliche Ziel der Hamas – die Auslöschung Israels – ausblendet, läuft Gefahr, sich unfreiwillig zum Verstärker regressiver Gewalt zu machen.


5. Wie man das Gesamtbild erkennt und moralisch reif handelt

Nur ein integrales Bewusstsein erlaubt es, die verschiedenen Fronten regressiver Macht als Teil eines größeren kulturellen Zusammenhangs zu erkennen. Diese Reife erfordert:

  • Entwicklungslogik statt reiner Machtlogik: Nicht jede Opposition gegen den Status quo ist emanzipatorisch. Entscheidend ist die Richtung der Entwicklung – führt sie zu mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Komplexitätsbewältigung oder zurück in einfache Dogmen?
  • Systemische Perspektive: Themen wie Feminismus, Klimagerechtigkeit, Antirassismus, Demokratie, Bildungsfreiheit und psychische Gesundheit sind nicht isoliert zu denken – sie sind Teile eines kulturellen Evolutionsprozesses.
  • Moralische Integrität: Wahre Empathie bedeutet, differenzieren zu können: zwischen Opfer und Täter, zwischen Befreiung und Maskerade, zwischen Widerstand und Regression.
  • Klare Positionierung: In Konflikten wie jenem um Israel oder Iran nützt „Neutralität“ letztlich den regressiven Kräften. Wer das Neue schützen will, muss Partei ergreifen – für Aufklärung, Menschenwürde und demokratische Werte.

Schlussgedanke

Die progressive Bewegung steht an einem Scheideweg. Sie kann ihre historische Rolle nur dann erfüllen, wenn sie lernt, ihre eigenen blinden Flecken zu erkennen. Ohne diese Reflexion besteht die Gefahr, unfreiwillig zum Werkzeug jener Kräfte zu werden, die alles zerstören, was sie selbst aufzubauen versucht: Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Pluralität, Nachhaltigkeit und Würde.

Es geht nicht darum, wen man verteidigt – sondern was man verteidigt: das Neue, das Gerechtere, das Lebensdienliche. Und das bedeutet, sich nicht durch Schuld oder Ideologie manipulieren zu lassen, sondern aus einer ethisch reifen Perspektive Haltung zu zeigen.

Nur mit einem integralen Bewusstsein gelingt es, die Linie zwischen Reaktion und Fortschritt klar zu ziehen – auch dort, wo sie durch kulturelle Überlagerung schwer zu erkennen ist. Die Zukunft braucht nicht nur Mitgefühl, sondern auch Urteilskraft.


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Kommentare

2 Antworten zu „Die kognitive Dissonanz linker Solidarität“

  1. Avatar von peter
    peter

    Klar und deutlich!

  2. Avatar von Matthias Glage
    Matthias Glage

    „Ein häufiger Einwand lautet: Man verteidige keineswegs die Ziele der Hamas, wenn man Israels militärisches Vorgehen kritisiere. Diese Unterscheidung ist wichtig – und muss ernst genommen werden. Natürlich ist es legitim, staatliches Handeln zu hinterfragen. Doch was in der Debatte oft vergessen wird, ist der Kontext, in dem Israels Handeln stattfindet: Ein demokratischer Staat verteidigt sich gegen eine terroristische Organisation, deren erklärtes Ziel die Vernichtung dieses Staates und die Tötung aller Jüdinnen und Juden ist.“ Richtig, Hier, lieber Gerhard, faende ich es wichtig, auch auf die persoenlichen Motive Netanyahus und seiner Regierung einzugehen, die sich leider nun auch immer mehr in der „Westbank“ zeigen. Wie sollen Palaestinenser, die keine Hamas-Anhaenger sind, noch eine Chance haben? Auswandern, wohin?

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