Das Völkerrecht ist aus der Zeit gefallen


Einleitung: Das Recht des Stärkeren – oder das Recht auf Selbstschutz?

Seit Jahrzehnten ist das Völkerrecht der juristische Rahmen, an dem sich internationale Politik, militärisches Handeln und moralische Bewertung orientieren. Es gilt als Bollwerk gegen die Rückkehr in das Zeitalter imperialer Gewalt und unkontrollierter Kriege. Doch was geschieht, wenn sich die Realität verändert, aber das Recht gleich bleibt? Wenn neue Formen der Gewalt auftauchen – und der rechtliche Rahmen keine Antworten mehr bietet?

Genau das erleben wir heute. Besonders sichtbar wird dieses Problem am Beispiel Israels – und der Diskussion um seine mögliche Reaktion auf Angriffe durch den Iran und dessen Stellvertreter. Immer wieder heißt es, Israel verstoße gegen das Völkerrecht, wenn es auf solche Bedrohungen mit militärischen Mitteln reagiere. Aber was bedeutet das – und entspricht diese Sichtweise noch der Wirklichkeit?


1. Ursprung und Intention des modernen Völkerrechts

Das moderne Völkerrecht, insbesondere die Charta der Vereinten Nationen von 1945, entstand aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Ziel war es, künftig militärische Aggression zu verhindern. Deshalb wurde das sogenannte Gewaltverbot festgeschrieben: Kein Staat darf einen anderen militärisch angreifen – es sei denn zur Selbstverteidigung oder mit Mandat des UN-Sicherheitsrats.

Dieses Regelwerk ging von einem klaren, fast mechanischen Weltbild aus: Zwei souveräne Staaten, eine formale Kriegserklärung, ein klar erkennbarer Aggressor, ein verteidigender Staat. Alles war auf Symmetrie ausgelegt – Staaten mit Armeen, Grenzen, Uniformen und politischen Führungen.


2. Die neue Kriegsrealität: asymmetrisch, hybrid, verschleiert

Doch die Kriegsführung des 21. Jahrhunderts sieht anders aus. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist offensichtlich, dass die klassische Vorstellung vom „Krieg zwischen Staaten“ der Realität nicht mehr gerecht wird.

Heute erleben wir asymmetrische Konflikte: Kriege ohne Kriegserklärung, geführt durch nichtstaatliche Akteure, die sich in urbanen Räumen verstecken, zivile Infrastrukturen als Schutzschilde nutzen und von ausländischen Regierungen gesteuert oder finanziert werden. Diese Konflikte verlaufen nicht offen, sondern über Jahrzehnte, schleichend, verdeckt – und doch mit tödlichen Konsequenzen.

Der Iran ist eines der prägnantesten Beispiele dafür. Offiziell befindet sich Teheran nicht im Krieg mit Israel. Doch faktisch betreibt der Iran seit Jahrzehnten eine systematische Kriegsstrategie gegen Israel – über Stellvertretermilizen wie Hamas, Hisbollah, Islamischer Dschihad, die Huthis im Jemen oder Kataib Hisbollah in Syrien und dem Irak. Diese Gruppen werden nicht nur ideologisch, sondern logistisch, finanziell und militärisch vom iranischen Regime unterstützt. Ihre Angriffe – Raketenbeschuss, Drohnenangriffe, Terroranschläge – kosten regelmäßig Menschenleben.


3. Die Sackgasse des alten Völkerrechts

Die Ironie ist bitter: Gerade weil Israel keinen klassischen Staat als Gegner hat, kann es sich rechtlich oft nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen, obwohl es de facto seit Jahrzehnten angegriffen wird. Das geltende Völkerrecht erkennt Angriffe nur dann als rechtfertigende Grundlage an, wenn sie unmittelbar bevorstehen und eindeutig einem Staat zugeordnet werden können.

Diese Sichtweise ist jedoch überholt. Sie schützt den Aggressor, der sich hinter nichtstaatlichen Strukturen versteckt, und bindet dem Verteidiger die Hände – ausgerechnet im Namen des Rechts. Wer sich daran festklammert, verteidigt nicht das Völkerrecht, sondern seine eigene Blindheit gegenüber neuen Formen der Gewalt.


4. Präemptive Selbstverteidigung – Ein gefährliches Konzept?

Kritiker befürchten, dass jede Aufweichung des Gewaltverbots zu einem Freifahrtschein für militärische Erstschläge führt. Doch genau darum geht es nicht. Es geht nicht um eine Legitimierung beliebiger Angriffe, sondern um eine präzisere Definition von Selbstverteidigung unter heutigen Bedingungen.

Was wir brauchen, ist eine normative Weiterentwicklung des Völkerrechts, die differenziert – nicht relativiert. Klare Kriterien für präemptive Selbstverteidigung könnten zum Beispiel sein:

  • Systematische, anhaltende Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure,
  • Nachweisbare Steuerung, Finanzierung oder Bewaffnung durch einen Staat,
  • Real eintretende Schäden durch Angriffe unterhalb der Kriegserklärungsschwelle,
  • Unmöglichkeit, den eigenen Schutz auf diplomatischem Weg zu gewährleisten,
  • Internationale Kontrolle und Transparenz der rechtlichen Begründung.

Es geht also nicht um Beliebigkeit, sondern um verantwortbare Klarheit. Die Alternative wäre, dass Staaten gezwungen sind, Untätigkeit zu üben – nicht aus Moral, sondern aus Angst vor juristischen Reputationsverlusten. Das wäre zynisch.


5. Der wahre Dammbruch: Das Schweigen des Rechts

Nicht die Diskussion über eine Neufassung des Völkerrechts ist gefährlich – sondern sein Schweigen gegenüber realer Gewalt. Wenn ein Staat wie der Iran über Jahre hinweg nicht-staatliche Akteure aufrüstet, aufhetzt und strategisch einsetzt, dann ist das kein Randphänomen, sondern eine neue Form staatlicher Kriegsführung.

Das Problem ist nicht, dass Israel über eine Antwort auf diese Bedrohung nachdenkt – das Problem ist, dass das Völkerrecht keine bietet.


6. Fazit: Reform statt Relativierung

Das Völkerrecht darf kein Anachronismus sein. Gerade weil es ein Bollwerk gegen Willkür bleiben soll, muss es lernfähig bleiben. Wenn es auf hybride Kriegsführung, Cyberangriffe, Stellvertreterkriege und asymmetrische Gewalt keine Antwort findet, dann verliert es nicht nur seine Autorität – sondern seine Legitimität.

Was wir brauchen, ist kein Bruch mit dem Gewaltverbot, sondern dessen Präzisierung für neue Gefahrenlagen. Nur ein Recht, das der Wirklichkeit standhält, kann das Unrecht begrenzen. Wenn es das nicht mehr kann, wird es selbst zum Spielball derer, die Gewalt strategisch einsetzen, ohne Verantwortung zu übernehmen.

Deshalb ist es Zeit für eine Revision – nicht der Grundwerte des Völkerrechts, sondern ihrer Anwendung im 21. Jahrhundert.


Möglicher Ausblick:
Ein internationales Gremium könnte eingesetzt werden, das – ähnlich wie in Fragen des Klimarechts oder Cyberkriegs – neue Definitionen erarbeitet: zum Verhältnis von staatlicher Verantwortung und nicht-staatlicher Gewalt, zu Schwellenwerten asymmetrischer Bedrohung und zu neuen Instrumenten kollektiver Reaktion. Nur so kann das Völkerrecht wieder zu dem werden, was es sein soll: Ein dynamisches Schutzinstrument – nicht ein statischer Kodex aus einer vergangenen Epoche.


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Kommentare

Eine Antwort zu „Das Völkerrecht ist aus der Zeit gefallen“

  1. Avatar von Hans-Peter Krause-Batz
    Hans-Peter Krause-Batz

    Danke. Klare Analyse.

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